Stand: 09.10.20 13:08 Uhr

Ein Jahr nach Halle: Wer Antisemit ist, bestimmen wir!

Kommt es zu antisemitischen Angriffen wie vor einem Jahr in Halle, ist das allgemeine Entsetzen groß. Doch wenn es um Antisemitismus im Alltag geht, zählen jüdische Befindlichkeiten wenig.

Ein Kommentar von Andrej Reisin

Die Kabarettistin Lisa Eckhart präsentiert im Literaturhaus Hamburg ihren Debütroman "Omama". © Axel Heimken/dpa Foto: Axel Heimken

Wo die Grenze zwischen der "Kunstfigur" Eckart und der Künstlerin Lasselsberger verlaufen soll, ist völlig unklar.

Kennen Sie den? Treffen sich Herschel und Moshe im Schwimmbad, sagt Herschel: "Na, hast Du ein Bad genommen?" Darauf Moshe: "Nein. Wieso, fehlt eines?" Dieser Witz kann je nach Erzähler und Intention sowohl bösartig und damit antisemitisch als auch ein cleveres Beispiel für jüdischen Humor sein. Im ersteren Fall unterstellt man den Juden sowohl mangelnde Hygiene als auch einen Hang zum Diebstahl, im letzteren Fall macht man sich genau über diese Vorurteile lustig. Es ist die altbekannte Unterscheidung zwischen Judenwitz und jüdischem Witz.

Die Kabarettistin Lisa Lasselsberger macht in dieser Definition zweifelsfrei Judenwitze. Denn erstens ist sie keine Jüdin, und sie spielt mit ihrer "Kunstfigur" Lisa Eckart auch keine. Zweitens beruft sie sich auch gar nicht auf jüdischen Humor. Was sie erzählt, sind Schenkelklopfer wie folgender, mit dem sie im Zuge der #MeToo-Debatte darauf verweist, dass einige der Täter Juden sind: "Es ist ja wohl nur gut und recht, wenn wir den Juden jetzt gestatten, ein paar Frauen auszugreifen. Mit Geld ist ja nichts gutzumachen. […] Wenn die Unantastbaren beginnen, andere anzutasten - der feuchte Alptraum der politischen Korrektheit. […] Aber am meisten enttäuscht es von den Juden. Denen geht’s wirklich nicht um Geld. Denen geht’s um die Weiber, und deshalb brauchen sie das Geld."

Wer lacht hier über wen?

Man kann sich einfach die Frage stellen, ob irgendeinem Antisemiten im Publikum dabei das Lachen im Halse stecken bleibt - und die Antwort lautet nein. Hier wird darüber gelacht, dass sich die Juden als die Lustmolche erweisen, für die man sie schon immer gehalten hat. Außerdem sind sie auch genauso geldgeil, wie man schon immer dachte, nur, haha, das Geld brauchen sie gar nicht um ihrer selbst willen, sondern für die Weiber. Dass der Witz vorne und hinten nicht funktioniert, weil Täter wie Harvey Weinstein sich ja eben keine sexuellen Dienstleistungen kauften, sondern mit Gewalt nahmen - und Geld und Macht höchstens dafür benutzten, die Opfer zum Schweigen zu bringen - geschenkt. Dass das lachende Publikum dabei vor allem angeblich "entlarvte" eigene Vorurteile komisch fand, wie Eckhart zu ihrer Verteidigung vorbringt, darf man getrost bezweifeln.

Doch in der gesamten Debatte um Eckart wurde sie auch nie direkt mit der simplen Frage konfrontiert, wer hier eigentlich über wen lacht. Stattdessen ging es lang und breit um "Kunstfiguren", "Political Correctness", "Cancel Culture" und uneigentliches Sprechen. Dabei ist die Figur Lisa Eckart überhaupt nicht von der Künstlerin Lasselsberger zu unterscheiden, die in Interviews zu ihrer Motivation sagt: "Politische Korrektheit würde ich definieren als eine etwas infantile Form von Respekt und Höflichkeit, die ganz, ganz rigider Regeln bedarf … wie man Kindern sagt, die ganz klare Regeln brauchen. Gutes Kabarett stieselt in den Wunden derer, die anwesend sind, stieselt in den Wunden des Kabarett-Publikums, das sich aus einem bestimmten Milieu zusammensetzt."

Doch da sie ja nicht vor einem vornehmlich jüdischen Publikum auftritt, kann man schnell feststellen, dass die Wunden, in denen hier "gestieselt" wird, diejenigen von anderen sind: Nämlich von Juden, die durchaus den antisemitischen Gehalt des Judenwitzes in Eckarts Pointen ausmachen:

Allein: Ihre Meinung zählt offenbar nicht. Während man in Deutschland Frauen mittlerweile zumindest zugesteht, selbst beurteilen zu können, wie sich Sexismus artikuliert und Schwarzen vielleicht doch einräumt, beim Thema Rassismus ein Mitspracherecht zu haben, definieren 75 Jahre nach dem Ende des Dritten Reiches die nicht-jüdischen Deutschen immer noch selbst, was Antisemitismus ist - sie kennen sich schließlich aus.

Keine Antisemiten nirgends

Und daher weisen selbstredend alle, denen antisemitische Äußerungen zugeschrieben werden, diese brüsk zurück: Jeder Vorwurf ist eine böswillige Unterstellung - womöglich noch von böswilligen Juden. Das trifft auf Eckart genauso zu wie auf Holger Stahlknecht (CDU), seines Zeichens Innenminister von Sachsen-Anhalt. Dieser hatte den Eindruck erweckt, deutsche Bürger seien schlechter geschützt, weil Polizisten so viel Zeit mit dem Schutz jüdischer Einrichtungen verbringen müssten. Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, warf ihm daraufhin vor, Antisemitismus zu befördern. Das mache den Zentralrat nach dem Anschlag von Halle und dem jüngsten antisemitischen Angriff in Hamburg "fassungslos".

Nützen wird es wenig. Weder wird Stahlknecht zurücktreten, noch wird sich der nächste antisemitisch motivierte Angreifer durch "Fassungslosigkeit" von irgendetwas abhalten lassen. Der Hamburger Täter sei geistig verwirrt, heißt es, als sei antisemitischer Verschwörungswahn ansonsten ein Ausweis guter geistiger Gesundheit. "Antisemitismus ist, wenn man Juden mehr hasst als nötig", soll der jüdische Philosoph Isaiah Berlin dazu einst bemerkt haben. Um nicht missverstanden zu werden: Ja, der Hamburger Täter mag eine psychische Erkrankung haben. Dass sein Hass sich innerhalb dieser gegen Juden richtet, ist aber kein Zufall - und ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode.

Und so geht es von links und rechts weiter: Der Kolonialhistoriker Achille Mbembe weist Antisemitismus ebenso brüsk von sich wie linke Demonstranten, die Israel von der Landkarte wünschen. Und natürlich sind auch die Anhänger von Anti-Corona-Verschwörungserzählungen keine Antisemiten, es sei denn, aus dem einen oder anderen bricht es offen heraus - das ist dann aber einer der berühmten "Einzelfälle":

Schuld an Corona? "Die Juden. Wer denn sonst?"
Gerd Walther, mehrfach vorbestrafter Holocaust-Leugner, ist mittlerweile Stammgast auf den "Hygiene-Demos" in Berlin. Und äußert sich auch dort antisemitisch.

Dazu zum Abschluss noch ein Witz: Goldschmidt steht am Bahnhof und muss dringend nochmal zur Toilette, bevor der Zug kommt. Seinen Koffer will er im Pissoir aber nicht auf den Boden stellen. Also fragt er einen Reisenden: "Sind Sie Antisemit?" Der ist außer sich: "Wie bitte? Was für eine infame Unterstellung, wie kommen Sie darauf?" Goldschmidt entschuldigt sich und wendet sich mit derselben Frage an den nächsten. Auch dieser weist das Ansinnen empört zurück. Der Dritte jedoch antwortet: "Selbstverständlich, den Juden gehört die halbe Welt und den Rest wollen sie auch noch versklaven." Darauf Goldschmidt: "Ah, sie sind ein ehrlicher Mann. Könnten Sie kurz auf meinen Koffer achten?"

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 23.04.2020 | 22:00 Uhr