Stand: 16.03.23 06:00 Uhr

Der Terror nach dem Terror

von R. Bongen, J. Feldmann, S. Friedrich, A. Jabarine, B. Sarikaya und H. Schneider

Seit drei Jahren fällt der Vater des Attentäters von Hanau immer wieder mit Beleidigungen und Einschüchterungsversuchen der Überlebenden und Hinterbliebenen auf. Insgesamt 46 Verfahren wurden gegen ihn bereits eingeleitet. Der Oberbürgermeister der Stadt spricht nun von "subtilem Terror".

Der Terror nach dem Terror
Insgesamt 46 Verfahren wurden gegen den Vater des Attentäters von Hanau bereits eingeleitet, u.a. weil er Angehörige der Opfer seines Sohnes belästigt hat.

Minutenlang habe der ältere Mann wenige Meter vor ihrem Küchenfenster gestanden, mit seinem Schäferhund, und sie in ein unangenehmes Gespräch verwickelt. Nachdem er am nächsten Tag wieder vor ihrem Haus stand und nicht gehen wollte, hat Serpil Temiz Unvar die Polizei gerufen. Der Mann, das ist Hans-Gerd R.. Sein Sohn hat ihren Sohn ermordet. "Er will mit unseren Schmerzen spielen", sagt Temiz Unvar über den Vater. "Er versucht, auf diese Art immer Teil unseres Lebens zu sein."

Gedenktafel von Ferhat Unvar © NDR

Ferhat Unvar wurde am 19.Februar 2020 bei dem Attentat in Hanau getötet

Ferhat Unvar gehört zu den neun Menschen, die R.s Sohn am 19. Februar 2020 in Hanau aus rassistischen Motiven getötet hat. Anschließend erschoss er seine Mutter und sich selbst. Etwas mehr als drei Jahre ist das nun her. Auch der Vater ist wiederholt mit rassistischem Gedankengut aufgefallen. In einem Brief an die Behörden nannte er das Gedenken an die Opfer "Volksverhetzung". Außerdem soll er die Teilnehmer einer Gedenkveranstaltung, darunter auch Angehörige der Ermordeten, als "wilde Fremde" bezeichnet haben.

"Am besten wäre, wenn der Vater die Stadt verließe."

Seit der Tat kommen die Überlebenden und Hinterbliebenen nicht zur Ruhe. Der Grund: Sie fühlen sich vom Vater des Attentäters bedroht. Der Oberbürgermeister der Stadt, Claus Kaminsky, beschreibt die Situation um Hans-Gerd R. nun als eine "nachhaltig schwierige": "Er übt eine Form von subtilem Terror aus", so der SPD-Politiker im Interview mit Panorama. Da, wo der 76-Jährige auftaucht, verstehe er es, die Menschen in Angst und Schrecken zurückzulassen, ohne dass es rechtsstaatlich zu fassen wäre: "Das ist eine sehr subtile, beinahe diabolische Fähigkeit, die der Vater besitzt." Kaminsky betont, dass man bisher alles getan haben, was rechtlich möglich sei. Er verstehe aber die, die sagen, dass das noch nicht reiche: "Natürlich wäre es am besten, wenn der Vater die Stadt verließe, wenn er seinen Wohnort wechselte. Das wäre vielleicht sogar für ihn auch das Bessere. Aber es gibt keine rechtliche Möglichkeit, das in irgendeiner Form zu erzwingen."

Mittlerweile 45 Ermittlungsverfahren gegen Hans-Gerd R.

Claus Kaminsky © NDR

"Er übt eine Form von subtilem Terror aus" - so beschreibt Hanaus Bürgermeister Claus Kaminsky die Situation mit Hans-Gerd R..

Nach Panorama-Recherchen hat die Staatsanwaltschaft Hanau mittlerweile insgesamt 46 Verfahren gegen Hans-Gerd R. eingeleitet. Dabei geht es um Beleidigung, Bedrohung, falsche Verdächtigung, Hausfriedensbruch, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und Verstöße gegen das Gewaltschutzgesetz. Allein in 30 Fällen wird dem Vater vorgeworfen, gegen das Gewaltschutzgesetz verstoßen zu haben, weil er sich etwa Angehörigen der Opfer des Attentats genähert haben soll. Wegen sechs solcher Verstöße ist R. inzwischen rechtskräftig zu einer Geldstrafe verurteilt. Das Landgericht Hanau hatte ihm im vergangenen Jahr zudem wegen Beleidigung in zwei Fällen eine Geldstrafe auferlegt. Dieses Urteil ist jedoch noch nicht rechtskräftig. Beim Amtsgericht Hanau liegen inzwischen sieben weitere Verfahren - Anklagen und Strafbefehle, gegen die R. Einspruch eingelegt hat.

Zweimal nahm die Polizei Hans-Gerd R. in den letzten Monaten in Gewahrsam, weil er sich dem Haus der Familie Unvar genähert hatte, trotz eines entsprechenden Verbots. Im Februar setzten Beamte R. "zur Durchsetzung eines Platzverweises" fest und führten "im Anschluss eine richterliche Entscheidung über die Zulässigkeit und Fortdauer der Freiheitsentziehung" herbei, wie es von der Polizei auf Anfrage heißt. Doch das Gericht lehnte eine längere Ingewahrsamnahme ab. Binnen 24 Stunden musste die Polizei R. wieder entlassen. Sein Schäferhund wurde Ende Februar vorübergehend sichergestellt, weil dieser eine Gefährdung darstelle. R. müsse nun diverse Auflagen erfüllen, um ihn zurückzubekommen.

Kurzzeitig im Gefängnis

Hans-Gerd R. mit seinem Hund. © NDR

Hans Gerd R., Vater des Hanau-Attentäters

Zuletzt saß R. Anfang März sogar kurzzeitig im Gefängnis, weil er eine Geldstrafe nicht zahlen wollte. Die verhängte Ersatzfreiheitsstrafe von 70 Tagen wurde dann allerdings ausgesetzt, weil die Staatsanwaltschaft Vermögen einziehen konnte. Seitdem befindet er sich wieder auf freiem Fuß.

Zu den konkreten Maßnahmen, die gegen R. und zum Schutz von Angehörigen der Opfer des Anschlags laufen, will sich die Polizei nicht äußern. "Das Polizeipräsidium Südosthessen hat die Entwicklungen stetig im Blick und veranlasst jeweils die erforderlichen sowie rechtlich möglichen Maßnahmen", heißt es von der Behörde.  

Betretungsverbot auch für das Rathaus

Andere Möglichkeiten, gegen R. wegen der Belästigungen der Angehörigen vorzugehen, sehen die Behörden nicht. Weil das Amtsgericht R. für schuldfähig hält, schied bisher eine zwangsweise Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik aus. Die Staatsanwaltschaft Hanau beantragte auch keine Untersuchungshaft. "Die Voraussetzungen eines Haftbefehls liegen mangels Haftgrunds nicht vor", teilt ein Sprecher auf Panorama-Anfrage mit. Flucht- oder Verdunkelungsgefahr bestehe nicht. Auch wegen einer möglichen Wiederholungsgefahr könne R. nicht in Untersuchungshaft genommen werden, so der Sprecher weiter. Dies sei nur möglich, wenn mit erheblichen Straftaten zu rechnen sei - dafür sind die mutmaßlich von R. begangenen Delikte nicht schwerwiegend genug.

Auch für das Rathaus und alle weiteren städtischen Räumlichkeiten hat der Vater seit Ende November ein Betretungsverbot, weil er mehrfach Beschäftigte belästigt und den Dienstbetrieb erheblich gestört habe. Dazu zählen auch alle Schulen und Kindertagesstätten der Stadt Hanau.

Weggehen keine Option

Bei der aktuellen Situation handele es sich um ein "klassisches Dilemma", sagt Oberbürgermeister Claus Kaminsky. Auf der einen Seite die Angehörigen, die Nachbarn, die sich bedroht fühlten. Auf der anderen Seite der Staat, der sich zwar anstrenge, mit Überwachung, mit Präsenz, ihnen aber diese Ängste nicht nehmen könne, durch die rechtsstaatlichen Einschränkungen. Diese seien zwar im Grundsatz gut, aber man könne dadurch das Problem nicht an den Wurzeln packen.

Seit November wacht die Polizei täglich in der Nähe des Hauses der Familie Unvar. Dafür sei sie dankbar, so die Mutter – und befürchtet trotzdem, dass der "subtile Terror" von Hans-Gerd R. weitergehe. Warum sie nicht einfach wegziehen würde, wurde Temiz Unvar unlängst mal gefragt. "Das ist keine Option", sagt sie. Denn dann habe der Vater ja sein Ziel erreicht.

Anfragen von Panorama ließen R. und sein Anwalt unbeantwortet.

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Das Erste 16.03.2023 | 21:45 Uhr