Stand: 02.12.21 09:30 Uhr

Amazon: Das Geschäft mit Pseudo-Marken

von Annette Kammerer, Christian Baars und Sebastian Friedrich

Diese Recherche beginnt mit einer Fahrradtasche - oder besser gesagt: mit dem Wunsch nach einer. Ich fahre jeden Tag mit dem Rad zur Arbeit, zum NDR. Nach mehr als 20 Jahren brauche ich mal wieder eine neue Tasche und suche im Netz nach Angeboten, auch bei Amazon - und werde förmlich erschlagen: Tausend Fahrradtaschen werden mir angezeigt, etliche Marken, von denen ich noch nie gehört habe. Ich klicke mich durch die Produktseiten, lese viel von begeisterten Radfahrern und leidenschaftlichen Taschenherstellern. Wo kommen die auf einmal alle her? Ist Deutschland zu einem Paradies für Fahrrad-Taschen-Start-Ups geworden?

Amazon: Das Geschäft mit Pseudo-Marken
Intransparent und nicht ohne Risiko: Massenware wird auf Amazon oft vermarktet mit neuen Markennamen und einer Story.

Modernes Glücksrittertum

Offenbar steckt ein anderes Geheimnis dahinter, eine Art modernes Glücksrittertum. Tausende versuchen, vom globalen Online-Handel zu profitieren, angefeuert und angeleitet von selbst ernannten Beratern, die ihre Erfolge auf Youtube anpreisen: "55.509,66 Euro Umsatz in nur 30 Tagen" oder gar "sechs Millionen pro Jahr", alles scheint möglich. Die vermeintliche Zauberformel: "Amazon FBA". Doch der Reihe nach.

Ich schaue mir einige der beliebtesten Taschen bei Amazon etwas genauer an. "Wir bauen Fahrradtaschen aus Leidenschaft", lese ich etwa bei der Marke "Forrider". Im Impressum finde ich eine Firma in Berlin. Der Chef heißt Nicklas Spelmeyer.

Lukrative Nischen und hohe Umsätze

Und von ihm entdecke ich vor allem etliche Videos, in denen er sich als "FBA-Experte" inszeniert. Er erklärt, wie man bei Amazon eine lukrative Nische entdecken und die entsprechende Ware auf Plattformen wie der chinesischen Seite Alibaba einkaufen kann - und dann mit einem eigenen Logo und Markennamen versehen auf Amazon zu einem Vielfachen weiterverkauft. Sechsstellige Umsätze? Kein Problem, so die Botschaft.

Ein Online-Shop für Fahrradtaschen © NDR/ARD Foto: Screenshot

Nach einigem Suchen finde ich tatsächlich auch seine "Forrider"-Tasche auf Alibaba. Der Hersteller bietet sie hier ab 8,50 US-Dollar je nach Stückzahl an, ein eigenes Logo könne man selbstverständlich drauf drucken lassen. Auf Amazon kostet die Forrider-Taschen im Doppelpack knapp 78 Euro.

Schräg, denke ich. Mir war bislang nicht klar, dass Zwischenhändler offenbar eigens erfundene Marken nutzen, um Massenware aus China besser und teurer verkaufen zu können.

Was ist "FBA-Handel"?

Nicklas Spelmeyer (r.) im Gespräch mit Panorama-Autor Christian Baars © NDR/ARD Foto: Screenshot

Nicklas Spelmeyer (r.) ist FBA-Händler - und von dem System überzeugt.

Ich will mehr über den "FBA-Handel" erfahren und verabrede mich mit Nicklas Spelmeyer zu einem Gespräch in seinem Büro in Berlin. Hier erklärt er mir sein Geschäftsmodell. "Wir kaufen Produkte irgendwo günstiger ein, in großen Mengen, meistens direkt beim Hersteller, und dann verkaufen wir diese Produkte über Amazon weiter." Im Angebot hat der FBA-Händler derzeit auch Pfannen und Töpfe - unter einem anderen Markennamen. Demnächst will er auch einen Kletterbaum für Katzen verkaufen.

Und was heißt nun FBA? "Fulfillment by Amazon", sagt mir Spelmeyer, ein Rundumservice-Paket. Der Konzern übernimmt die komplette Abwicklung. Die Händler müssen nur dafür sorgen, dass die Ware etwa aus China direkt in ein Lager von Amazon gelangt. Dann kümmert sich der Konzern um alles weitere: Bezahlvorgang, Verpackung, Versand, Kundenservice - bis hin zu einer möglichen Vernichtung von Retouren und nicht verkaufter Neuware. "Unsere Produkte kommen am Ende genau wie alle in diesen Kartons mit dem Smiley von Amazon drauf, und wir haben sozusagen gar nichts mehr zu tun", erklärt mir Spelmeyer.

Werden die Kunden getäuscht?

Auch auf die "Forrider"-Taschen spreche ich Spelmeyer an. Die kämen tatsächlich von dem chinesischen Hersteller, den ich auf Alibaba entdeckt habe, bestätigt er. Ich frage ihn, ob er verstehen könne, dass Leute sich vielleicht getäuscht fühlen könnten. Denn auf der Amazon-Seite stehe ja: "Wir bauen Fahrradtaschen aus Leidenschaft". Spelmeyer sagt, das sehe er nicht so. Denn es sei wie bei jedem großen Unternehmen, Dinge würden eben weltweit zusammengebaut. "Ich würde jetzt nicht sagen, nur weil es aus China ist, dass keine Leidenschaft dahinterstecken kann."

Zurück im Büro schaue ich mir noch einige Videos von "FBA-Beratern" an, lerne, wie man eine gute Story zu einem Produkt erfindet, eine Marke anmeldet oder sich ein Logo von Freelancern für 50 Euro entwerfen lässt. Es gibt sogar automatische Generatoren für Markennamen…

Juozas Kaziukėnas © NDR/ARD Foto: Screenshot

Juozas Kaziukėnas warnt vor den Risiken des FBA-Handels.

Amazon sei wie ein Computerspiel, das Millionen von Verkäufern angezogen habe, erklärt mir Juozas Kaziukėnas von MarketplacePulse, einer US-Beratungsfirma für E-Commerce. Das Problem sei nur: Es gehe hier um reale, physische Gegenstände. "Die meisten dieser Verkäufer halten ihre Produkte wahrscheinlich niemals in der Hand", sagt Kaziukėnas. Verheerend könne das sein, wenn potenziell "unsichere", "gefährliche" oder "gefälschte" Produkte verkauft würden. "Da kann alles Mögliche schief gehen." Denn es werden nicht nur Taschen auf diesem Weg verkauft, sondern auch Fahrradhelme, Kinderspielzeug, elektronische Geräte oder Medizinprodukte.

Amazon übernimmt keine Haftung

Wie groß die Gefahr ist, zeigen etwa zwei Stichproben aus dem vergangenen Jahr: eine vom europäischen Verbraucherverband BEUC und eine von der dänischen Handelskammer. Beide haben Produkte von Dritthändlern auf Onlineplattformen, auch bei Amazon, bestellt und getestet. Das Ergebnis: Viele waren gefährlich und hätten nicht verkauft werden dürfen. Sollte etwas mit dem Produkt nicht in Ordnung sein, übernimmt Amazon in Europa jedoch keine Haftung. Die Verantwortung liegt bei den Händlern, die die Plattform nutzen.

Für Amazon dagegen ist das Geschäft nahezu risikolos und sehr profitabel. Die Händler zahlen Gebühren für den Service und oft viel Geld für Werbung, um prominent auf der Plattform aufzutauchen. Den Händlern würden am Ende etwa 20 Prozent des Verkaufspreises bleiben, schätzt Kaziukėnas. 40 bis 50 Prozent kassiere Amazon. Ich frage auch den Konzern selbst nach diesen Zahlen. Eine konkrete Antwort bekomme ich dazu nicht.

Klar ist aber: Mittlerweile erwirtschaftet der Konzern fast zwei Drittel seines Handels-Umsatzes über Dritthändler. Weltweit nahm Amazon 2020 laut MarketplacePulse etwa 300 Milliarden US-Dollar mit diesem Geschäft ein - etwa 50 Prozent mehr als im Vorjahr.

Risiko für Kunden und Verkäufer

Ein letztes Gespräch führe ich noch mit Mark Steier, einst erfolgreicher Ebay-Händler und nun Experte für E-Commerce. Er sagt, das Amazon-System berge nicht nur für die Kunden Risiken, sondern auch für die Verkäufer. "Sie übersehen Produkte, die hierzulande gar nicht vertrieben werden dürfen, weil sie etwa Sicherheitsstandards nicht erfüllen." 

Steier fordert deshalb, Amazon stärker in die Pflicht zu nehmen: "Ohne eine solche Plattform gäbe es das Geschäftsmodell nicht. Das heißt, wenn ich Erfinder dieses Geschäftsmodells bin, trifft mich auch in einem hohen Maße eine besondere Verantwortung." 

Darüber wollte ich auch gern mit einem Vertreter von Amazon ein Interview führen. Das hat der Konzern aber abgelehnt. Immerhin hat ein Sprecher schriftlich und ausführlich auf Fragen geantwortet. Er schrieb unter anderem, dass die Amazon-Verkaufspartner unabhängige Unternehmen seien, sich aber an die Verkaufsbedingungen halten müssten. Amazon verlange, dass alle angebotenen Produkte den geltenden Gesetzen und Vorschriften entsprächen. Die Sicherheit der Kund:innen habe "oberste Priorität".

Der Konzern habe zudem "zuverlässige Programme entwickelt, um sicherzustellen, dass die angebotenen Produkte sicher sind und den Vorschriften entsprechen". Im Jahr 2019 seien mehr als sechs Milliarden verdächtige Angebote wegen verschiedener Verstöße gesperrt worden, bevor sie veröffentlicht wurden. Die Programme würden auch ständig Hunderte Millionen Produkte, die angeboten würden, überprüfen. Darüber hinaus informiere der Konzern seine Kunden umgehend, wenn eine Behörde einen Rückruf anordnen.

Ob das reicht? Daran habe ich nach meiner Recherche Zweifel. Als Kunde jedenfalls habe ich kaum eine Chance zu durchschauen, woher meine Ware kommt - und ob alles stimmt, was mir bei Amazon präsentiert wird.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 02.12.2021 | 22:00 Uhr