Stand: 17.12.20 10:30 Uhr

Schulschließungen: Wankelmut und Wirrwarr

von Robert Bongen, Lea Busch, Andrej Reisin, Jonas Schreijäg

Um die Corona-Ansteckungsgefahr in den Schulen besser beurteilen zu können, haben die Kultusminister eine Studie beauftragt. Doch Ergebnisse werden offenbar erst lange nach dem aktuellen Lockdown erwartet. In anderen Ländern ist man weiter - und die Ergebnisse sind eindeutig.

Eine Mund-Nasen-Maske hängt an einem Tisch im Klassenzimmer. © picture alliance/Eibner-Pressefoto/Weber/Eibner-Pressefoto Foto: Weber/Eibner-Pressefoto

Wie hoch die Ansteckungsgefahr an deutschen Schulen ist, soll jetzt eine Studie zeigen.

Nach Recherchen von Panorama werden die Ergebnisse einer Studie zum Infektionsgeschehen an deutschen Schulen erst in der zweiten Jahreshälfte 2021 vorliegen. Das gemeinsam mit der Kinderklinik der Universität Köln beauftragte Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) teilte dazu mit, das entsprechende Projekt sei am 10. Dezember gestartet, mit einer Laufzeit von neun Monaten. "Mit den vollständigen Ergebnissen ist also erst danach zu rechnen", sagte Sprecher Andreas Fischer.

Die Epidemiologin und Co-Projektleiterin Dr. Berit Lange präzisierte auf Nachfrage, dass man natürlich vorhabe, auch Zwischenergebnisse zu einzelnen Bereichen zu veröffentlichen, wenn diese ausgewertet seien. Dies könne beispielsweise eine geplante Analyse und Bewertung (Metastudie) bereits veröffentlichter einschlägiger Studien zu spezifischen Fragestellungen im Themenbereich Infektionsgeschehen an Schulen sein. Eine retrospektive Erhebung zur Analyse der stattgefundenen Infektionsdynamik an und durch Schulen werde hingegen einige Monate in Anspruch nehmen. Konkrete Daten aus einzelnen Bundesländern lägen hierzu noch nicht vor.

Hamburger Schulbehörde präsentiert eigene Zahlen

Demgegenüber hatte Hamburgs Schulsenator Ties Rabe (SPD) am 19. November bereits eine "Zahlenauswertung" vorgestellt, die zur "Grundlage einer Studie" werden sollte. "Wir haben zur Vorbereitung dieser bundesweiten Studie der Kultusministerkonferenz unsere Hamburger Daten alle aufgearbeitet, so gut es geht", sagte Rabe damals.

Hamburgs Schulsenator Ties Rabe (SPD) spricht auf einer Pressekonferenz im Rathaus. © dpa Foto: Georg Wendt

Hamburg habe bereits eine "Zahlenauswertung", so Hamburgs Schulsenator Ties Rabe.

Demnach wurden in den ersten acht Wochen des Schulbetriebes zwischen dem 4. August und dem 4. Oktober (Herbstferien) 372 Hamburger Schülerinnen und Schüler als Corona-infiziert gemeldet. Von diesen hätten sich aber 292 "vermutlich gar nicht in der Schule infiziert". Rabe schlussfolgerte, dass sich "zwischen dem Sommer und den Herbstferien lediglich 20 Prozent der Schülerinnen und Schüler, die in dieser Zeit als Corona infiziert gemeldet worden sind, vielleicht in der Schule infiziert haben können."

Infizierten sich "80 Prozent" außerhalb der Schulen?

Mikrobiologe Michael Wagner © NDR/ARD Foto: Screenshot

Kinder an den Schulen spielen eine Rolle für das Infektionsgeschehen. Das belegt die Studie von Mikrobiologe Michael Wagner.

Der österreichische Mikrobiologe Michael Wagner von der Universität Wien, der eine groß angelegte "Schul-Sars-CoV-2-Monitoringstudie" in Österreich leitet, die von insgesamt vier Universitäten in Zusammenarbeit mit dem Bildungsministerium durchgeführt wird, ist im Gespräch mit Panorama skeptisch: "Wenn ich nur die infizierten Kinder anschaue, und dann frage, gibt es noch andere nachgewiesene Infektion an den Schulen, ohne dass ich auch asymptomatische Kinder teste, dann kann ich keine Aussage machen, woher das Virus stammt. Also, wenn der Franz infiziert war, hat man dann die ganze Klasse getestet oder hat man nur gesagt, gibt es noch andere nachweislich Infizierte in der Klasse vom Franz? Eine Aussage kann ich nur machen, wenn ich zumindest die ganze Klasse von den infizierten Schülern getestet habe, und zwar nicht nur nicht nur einmal."

Kultusministerkonferenz beauftragt Studie

Im November hatte die Kultusministerkonferenz (KMK) das aus mehreren Teilen bestehende Studienprojekt offiziell angekündigt. Ein Ziel: Die Hamburger Schulbehörde sollte sich um die Vorbereitung kümmern. Die Studie sollte das Infektionsrisiko bei Schulbeteiligten untersuchen, "damit auf dieser Grundlage weitere Maßnahmen" getroffen werden könnten.

Auf Nachfrage von Panorama gab die Hamburger Schulbehörde an, ihr sei als Publikationstermin "Januar 2021 avisiert" worden. Wie eine sorgfältige wissenschaftliche Datenauswertung, die man erst im November beauftragt hat, und deren Projektbeginn am 10. Dezember war, bereits einen Monat später publiziert werden könnte, ließ die Behörde offen. Die Aussagen stehen in deutlichem Widerspruch zu den eher vorsichtigeren Einschätzungen der von Panorama befragten Wissenschaftler.

Aktuelle Studien zeigen Beteiligung von Schülern

Unterdessen werden allerdings Ergebnisse aus wissenschaftlichen Untersuchungen aus anderen Ländern bekannt, in denen man zum Beispiel Reihenuntersuchungen deutlich früher beauftragt hatte als die KMK.

Diese Zwischenergebnisse widersprechen dem Mantra der angeblich sicheren Schulen zum Teil erheblich: So twitterte der Direktor des Instituts für Virologe an der Berliner Charité, Christian Drosten, am Dienstag über die Ergebnisse einer laufenden Reihenuntersuchung in Großbritannien. Demnach sind die Infektionsraten "im gesamten Schulalter über dem Durchschnitt der Bevölkerung", auch in der Grundschule. Die Studie in UK vermeide "so gut es geht eine Unter- oder Übertestung einzelner Altersgruppen", so Drosten weiter.

In Österreich liegen Ergebnisse bereits vor

Auch Michael Wagner, dessen Studie in Österreich während des Schuljahres 2020/21 alle drei bis fünf Wochen 10.400 Schüler und deren Lehrer an 243 repräsentativ ausgewählten Schulen testet, warnt: "Wenn das Infektionsgeschehen draußen hoch ist, kann ich eine Schule nicht so schützen, dass dort keine Übertragungen stattfinden. Ich habe das nie ganz verstanden, wie man sagen kann, in den Schulen passiert nichts, warum sich die Politik so verliebt hat in diese These. Es war ein politisches Narrativ, weil das natürlich vieles erleichtert, wenn es so wäre. Aber es ist ein wenig Wunschdenken. Und es ist auch ein wenig Kopf in den Sand stecken."

In Deutschland geht das "Wunschdenken" derweil weiter: "So schnell wie möglich" wollen die Kultusminister zurück zum Präsenzunterricht, möglichst schon im Januar. Belastbare Zahlen und wissenschaftliche Ergebnisse, die hierfür als Grundlage dienen könnten, werden zu diesem Zeitpunkt nicht vorliegen.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 17.12.2020 | 21:45 Uhr