Stand: 26.11.20 06:00 Uhr

Corona-Nachverfolgung: Der verschlafene Sommer

von Lennart Banholzer, Johannes Edelhoff, Annette Kammerer, Sebastian Pittelkow, Katja Riedel

Der Präsident klang begeistert. Er danke herzlich für die "eindrucksvolle Präsentation", so schrieb es Lothar Wieler in einer Email am Abend des 23. März, zu Beginn der Corona-Pandemie. "Nichts hätten wir lieber als dieses Tool". Das Tool, von dem sich der Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI) offenbar zu diesem Zeitpunkt so beeindruckt zeigte, war ein digitales Werkzeug, das sich schlicht "Covid 19 Plattform" nannte.

Corona-Nachverfolgung: Der verschlafene Sommer
Die Nachverfolgung der Corona-Infektionen stockt, Ressourcen fehlen. Bis heute nutzen Gesundheitsämter ineffiziente und uneinheitliche Methoden. Dabei standen bereits im März Plattformen bereit, die vieles erleichtert hätten.

Vernetzung und Entlastung wäre bereits im März möglich gewesen

Es stammte von der Björn Steiger Stiftung (BSS) aus dem schwäbischen Winnenden. Die Stiftung hatte es bei Entwicklern in Auftrag gegeben und nach wenigen Wochen bereits eine  Probeversion angeboten. Die Plattform sollte für Bürger wie für Behörden einfach zugänglich sein und nach Stiftungsangaben kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Eine Präsentation aus dem April zeigt: Die "Covid 19 Plattform" sollte unter anderem Termine an Bürger vergeben, die Testergebnisse speichern und an Bürger wie Ämter weitermelden sowie Kontakte mithilfe der Bürger nachverfolgen können. Das Ziel: Das Gesundheitsamt als zentrale Anlaufstelle für Labors und Bürger sollte so entlastet und die Ämter sowie das RKI bundesweit miteinander vernetzt werden. Im Frühjahr gab es zudem auch Angebote von staatlich finanzierten Stellen, die die Gesundheitsämter - nach Recherchen von NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung" (SZ) - schon während der ersten Corona-Welle personell hätten entlasten und das Management der Pandemie erleichtern können. Insbesondere das zu 70 Prozent öffentlich finanzierte Helmholtz-Institut hatte den Recherchen zufolge bereits im März eine Plattform zur Hand, die vieles von dem bereits im Einsatz erprobt hatte, was die BSS gerade erst unter Laborbedingungen entwickelte.

Arbeiten wie im letzten Jahrhundert

Und dennoch: Bis heute arbeiten viele Gesundheitsämter noch wie zu Beginn der Pandemie, mit Papier und Excel-Tabellen, die sie per Fax oder Email versenden, - oder mit individuellen Lösungen, die sich im Kampf um eine bessere Organisation der Pandemiebekämpfung vielerorts entwickelt  haben. Spätestens mit Beginn der zweiten Welle im Herbst scheiterten viele Gesundheitsämter an Überlastung, zum Beispiel in Köln: Dort waren etwa 800 Bürger mit positiven Testergebnis ein Wochenende lang von den Ämtern nicht informiert worden.

Erst am 16. November - auf dem Höhepunkt der Pandemie - haben sich die Bundesländer und das Kanzleramt darauf verständigt, die digitale Plattform des Helmholtz-Instituts namens "SORMAS" einzusetzen. Eine Plattform, die vieles von dem kann, wofür sich die BSS stark gemacht hatte, um die Pandemie besser in den Griff zu bekommen.

Deutschland hinkt im Software-Einsatz hinterher

Bis Jahresende soll SORMAS in 90 Prozent der deutschen Gesundheitsämter zum Einsatz kommen. Bisher haben es nur 76 von rund 400 dieser Behörden freiwillig angewendet, mehrheitlich erst seit Herbst. Nach Recherchen von NDR, WDR und SZ hätte dies jedoch schon zu Pandemiebeginn Anfang März in einer ersten, vereinfachten Version auch in Deutschland flächendeckend eingeführt werden können. SORMAS wurde in Deutschland mit staatlichen Mitteln entwickelt. Bereits seit 2017 ist es zur Bekämpfung der Ebola-Epidemie in Nigeria und Ghana im Einsatz - seit Beginn der Corona-Pandemie wird es dort auch bereits zum Management der Corona-Infektionsketten eingesetzt. Auch Nepal und die Fiji-Inseln setzten die Software schnell ein, heißt es auf der Internetseite des Projektes. Die Schweiz, Frankreich und weitere Länder haben sich inzwischen auch für SORMAS entschieden. Aber in Deutschland wurde das Programm den Gesundheitsämtern offenbar weit zögerlicher anempfohlen.

Mehrbelastung durch Softwaresystemwechsel?

Dr. Michael Ziemons © NDR/ARD Foto: Screenshot

Ist nicht erfreut, mitten in der Hochphase der Pandemie das Softwaresystem wechseln zu müssen: Michael Ziemons, Gesundheitsdezernent Aachen.

Ein eindeutiger Appell der Bundesregierung an die Länderchefs, dass dieses gut getestete Projekt bundesweit angewendet werden sollte, unterblieb offenbar - bis zur Sitzung von Kanzlerin und Ministerpräsidenten am 16. November. Dies sorgt nun bei einigen Gesundheitsämtern für Verärgerung, weil sie nun mitten in einer Hochphase der Pandemie ihr Softwaresystem wechseln sollen. "Man hätte Schnittstellen für die vorhandene Software bereitstellen sollen, statt uns jetzt zu zwingen, ein zusätzliches Computerprogramm zu benutzen", beklagt beispielsweise der Gesundheitsdezernent der Städteregion Aachen, Michael Ziemons, im Interview mit Panorama.

Günstigeren Zeitpunkt verpasst

Wurde also der Sommer verpasst, blieb die Phase der vorübergehenden Beruhigung, der niedrigeren Fallzahlen, ungenutzt, um das Management der Pandemie zu vereinheitlichen und so die komplette Infektions-Meldekette mit technischer Unterstützung zu entlasten? Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) verweist auf Anfrage auf die Zuständigkeit der Länder und der Kommunen, die sich und ihre örtlichen Gesundheitsämter selbst verwalten. Man hätte diesen schon lange verschiedene digitale Programme und Werkzeuge angeboten, aber die Länder hätten davon nur zögerlich Gebrauch gemacht. Vieles deutet aber auch darauf hin, dass das BMG es unterließ, sich frühzeitig für ein einheitliches System, etwa SORMAS, stark zu machen. Dabei war das Ministerium schon zu zu Beginn der Pandemie mit SORMAS und verschiedenen anderen digitalen Initiativen in Austausch getreten, um zu bewerten, inwiefern diese in der Pandemie unterstützend eingesetzt werden können, so heißt es auf Anfrage vom Helmholtz-Institut.  

 "Datenschutzrechtliche Bedenken"

Darauf deutet auch der Umgang mit dem Angebot der Steigerstiftung im März und April hin. Nach einem Termin im BMG verwies das Ministerium an Bremen, um dort einen Testlauf zu starten. Das geht aus vorliegenden Mails hervor. In Bremen wurde ein Versuch zunächst erwogen, den Recherchen zufolge aber wegen Datenschutzbedenken und weil es aus Bremer Sicht einen zu großen Arbeitsaufwand bedeutet hätte, doch verworfen. Das Angebot habe nicht, wie ursprünglich angenommen, "zu den eigentlich benötigten Entlastungseffekten" geführt, heißt es nun auf Anfrage von der Bremer Senatsverwaltung. Zudem habe es "massive datenschutzrechtliche Bedenken" gegeben. Das RKI teilt auf Anfrage mit, dass eine stärkere digitale Vernetzung und einheitlichere Systeme sehr wünschenswert seien, denn sie würden "vieles erleichtern". Das von der Björn-Steiger-Stiftung vorgestellte Tool sei im Frühjahr jedoch "noch nicht ausreichend konkret" gewesen und "daher nicht in Angriff genommen" worden. Ob der Sommer verschlafen wurde, dazu will das RKI keine Stellung beziehen. Es weist jedoch darauf hin, dass mit der Digitalisierung des Meldewesens bereits vor der Corona-Pandemie auch durch Entwicklungen des RKI selbst begonnen worden sei, und dass Corona die Digitalisierung eher beschleunigt habe.

Sommer "quasi verschwendet"

Der Leiter der Kassenärztlichen Vereinigung Bremen, Jörg Hermann, der sich gegenüber dem BMG in einer Email damals zunächst sehr positiv zu einem Testlauf der Steiger-Software geäußert hatte, bilanziert inzwischen: "Mit einem bundeseinheitlichen Tool hätten wir wahrscheinlich etwas früher brauchbare Daten an das RKI melden können, sodass der Überblick besser gewesen wäre."

Karl Lauterbach (SPD) © NDR/ARD Foto: Screenshot

Es habe an der Umsetzung gefehlt, so Karl Lauterbach, Gesundheitsexperte der SPD.

Auch Gesundheitsexperte Karl Lauterbach (SPD) sagt im Interview gegenüber Panorama: "Der Sommer hatten wir sehr wenig Fälle. Das wäre eine sehr gute Gelegenheit gewesen, eine einheitliche Software einzuführen. Leider haben wir den Sommer quasi verschwendet." Niemand habe sich, so Lauterbach, politisch zuständig gefühlt. Es habe nicht an Entwicklungen gefehlt, sondern an der Umsetzung.

Auch Bela Anda, Sprecher der Björn-Steiger-Stiftung, hätte sich eine schnelle Entscheidung für ein einheitliches System gewünscht. "Der Sommer wurde verschlafen, weil die Komponenten da waren, die Anbieter da waren, die Lösung vorgezeichnet war, aber keiner damals den Mut hatte, zu sagen: Ok, den Weg gehen wir."

Die Steigerstiftung (BSS) hatte monatelang Zweifel, ob ihr Projekt oder zumindest Teile dessen noch umgesetzt noch werden. Bis überraschenderweise im Herbst die Politik doch noch Interesse zeigte. In der vergangenen Woche wurde nach Informationen von WDR, NDR und SZ ein offizieller Kooperationsvertrag für die Weiterentwicklung und Einführung von SORMAS zwischen BSS und HZI geschlossen. Die BSS soll dort einige ihrer Komponenten einbringen, die ihre Plattform besser konnte als SORMAS. Die Überprüfung auf Datensicherheit ist jedoch noch nicht abgeschlossen. 

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 26.11.2020 | 22:00 Uhr