Stand: 12.09.19 06:00 Uhr

Tödliche Gefahr: Das Ende der Antibiotika?

von Christian Baars, Oda Lambrecht

Es begann alles in Wuppertal, in den Laboren des Pharmaunternehmens Bayer. Ärzte und Chemiker entwickelten dort vor rund hundert Jahren die ersten Antibiotika. Etwa zur selben Zeit erforschte der britischer Wissenschaftler Alexander Fleming die Wirkung eines ähnlichen Mittels, des Penicillins, das später weltberühmt wurde. In den 1940er-Jahren konnten die ersten Patienten damit behandelt werden. Viele Länder bejubelten die großartigen medizinischen Erfolge. Antibiotika wurden sogar Teil der Kriegspropaganda. Dank der Medikamente konnten Soldaten lebend heimkehren.

Tödliche Gefahr: das Ende der Antibiotika
Es ist eine der größten, globalen Gefahren: Resistente Keime breiten sich aus. Antibiotika verlieren zunehmend ihre Wirkung. Aber fast alle Pharmakonzerne stoppen die Forschung an neuen Mitteln.

Früher verdienten viele Firmen an Antibiotika

Sir Alexander Fleming (um 1940). © picture-alliance / akg-images

Sir Alexander Fleming erhielt 1945 den Nobelpreis für die Entdeckung des Penicillins.

Fast alle großen Pharmafirmen weltweit stiegen in den folgenden Jahren in die Entwicklung und Produktion von Antibiotika ein und verdienten gut daran. Ärzte verschrieben das neue Wundermittel massenhaft und bedenkenlos. Es dauerte allerdings nicht lange, bis die ersten Berichte von Resistenzen auftauchten. Bakterien hatten Abwehrmechanismen gegen die Medikamente entwickelt.

Doch zunächst schafften es die Pharmaforscher, eine Reihe neuer Wirkstoffe herauszubringen. Der Glaube war groß, die Bakterien irgendwann ganz besiegt zu haben. Aber es war ein Irrglaube. Einzelnen Krankheitserregern gelang es immer wieder, den Einsatz der Medikamente zu überleben.

Antibiotika verlieren zunehmend ihre Wirkung

Peter Beyer.

"Wir brauchen mehr Antibiotikaentwicklung", sagt Peter Beyer. Aber fast alle großen Konzerne seien ausgestiegen.

Und heute? Resistente Bakterien breiten sich weiter aus. "Wir sehen, dass mehr und mehr Antibiotika ihre Wirkung verlieren", sagt Peter Beyer von der Weltgesundheitsorganisation (WHO). "Wir brauchen mehr Antibiotikaentwicklung, damit wir nicht irgendwann einfach dastehen und nicht mehr wissen, wie wir die Infektionen behandeln sollen".

Doch fast alle großen Pharmakonzerne haben ihre Antibiotikaforschung gestoppt - 2016 AstraZeneca, zwei Jahre später Sanofi und Novartis. Und nun hat auch der weltgrößte Gesundheitskonzern Johnson & Johnson dem NDR auf Nachfrage bestätigt, dass er derzeit keine Antibiotika entwickelt. Dabei hatte das Unternehmen noch 2017 eine kleine Firma gekauft, die an Antibiotika forscht. Doch dieses Programm wurde offensichtlich gestoppt.

Fast alle großen Konzerne haben Forschung gestoppt

Die großen Pharmaunternehmen seien mittlerweile fast alle ausgestiegen, sagt Peter Beyer. "Jedes Jahr steigen noch ein oder zwei aus, weil sie andere Bereiche priorisieren, in denen sie mehr Geld verdienen können."

Der Pionier, das deutsche Unternehmen Bayer, das jahrzehntelang führend in diesem Bereich war, hat diesen Schritt schon vor mehr als zehn Jahren vollzogen. Sehr bedauerlich sei das, sagt Uwe Petersen. Der Chemiker lebt am Rande von Leverkusen. Jahrzehntelang hat er bei Bayer gearbeitet und dort wichtige Antibiotika mitentwickelt. Bis heute retten sie vielen Menschen das Leben. Er ist stolz auf das Unternehmen und auf das, was sie geleistet haben.

Gesamte moderne Medizin steht auf dem Spiel

Die Medikamente, die damals entwickelt wurden, sind aus den Kliniken nicht wegzudenken. Denn dort liegen viele geschwächte Patienten, die anfällig sind für Infektionen. Lungenentzündungen etwa würden zum Klinikalltag gehören, sagt Petersen. "Und wenn es dort keine Antibiotika gäbe, dann würden die Patienten sterben." Operationen, Krebstherapien, die Behandlung von Frühgeborenen - die gesamte moderne Medizin steht auf dem Spiel, wenn Antibiotika nicht mehr wirken.

Börsenkurse bestimmen Entscheidungen

Vertreter von Bayer an der New Yorker Wall Street zum Börsengang 2002.

Im Januar 2002 ging Bayer an die Wall Street.

Uwe Petersen ging 2002 in Rente. Es war das Jahr, als Bayer in den USA an die Wall Street ging, in der Zeit des großen Börsenbooms. Zunehmend bestimmten die Aktienkurse die Entscheidungen in den großen Pharmakonzernen weltweit. Und in dieser Zeit begann Bayer den größten Umbau seiner Konzerngeschichte. Auf einer Investorenkonferenz im September 2004 kündete der damalige Bayer-Pharmachef an, man wolle sich von nun an auf die "high priority"-Projekte konzentrieren, diejenigen mit dem größten kommerziellen Potenzial. Antibiotika gehörten nicht dazu.

Denn Antibiotika werden in der Regel nur wenige Tage lang eingesetzt, dann ist der Patient meist gesund und braucht keine Medikamente mehr. Außerdem ist mittlerweile allen klar, dass neue Antibiotika generell möglichst selten verwendet werden sollten, damit sich nicht schnell weitere Resistenzen entwickeln. Deshalb werden die Mittel in der Regel zunächst als Reserve für die Fälle zurückgehalten, bei denen die älteren Medikamente nicht mehr wirken.

Stopp bei Bayer: "Gelübde an Kapitalmarkt"

Im November 2005 teilte Bayer mit, man werde die Antibiotika-Forschung ausgliedern und sich auf Medikamente gegen Krebs, Diabetes und Herzkreislauf-Erkrankungen beschränken. Als "Gelübde an den Kapitalmarkt", bezeichnete damals die Börsen-Zeitung die Entscheidung. Tatsächlich stieg der Aktienkurs.

Dabei hatte Bayer noch im Jahr 2001 eine Initiative zum Kampf gegen Resistenzen gestartet. In einer Broschüre hieß es zu Antibiotika: "Wir stehen kurz davor, die lebensrettenden Wirkstoffe und Wundermittel des vergangenen Jahrhunderts zu verlieren". Resistenzen zu bekämpfen sei keine leichte und kurzfristige Aufgabe. Aber sie sei es wert und absolut notwendig. Bayer engagiere sich für diese wertvollen Medikamente. "Because our future needs effective antibiotics" - "Weil unsere Zukunft wirksame Antibiotika braucht", so hieß es auf der Internetseite der Initiative. 2006 wurde sie offenbar offline gestellt.

Ein Interview zum Ausstieg aus der Antibiotikaforschung hat Bayer abgelehnt. Schriftlich bestätigte der Konzern lediglich, dass er damals den Bereich ausgegliedert hat. Fragen nach den Gründen und der gesellschaftlichen Verantwortung beantwortete der Konzern nicht.

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Andere Mittel versprechen viel höhere Einnahmen

Auch wenn kein Konzern gerne darüber spricht: Der Grund für den Ausstieg dürften wohl finanzielle Erwägungen gewesen sein. Ein Medikament zu entwickeln ist aufwändig und teuer. Es dauert mindestens zehn Jahre und kostet Hunderte Millionen Euro - egal, ob die Firma ein Krebsmittel oder ein Antibiotikum auf den Markt bringen will. Doch die Aussichten auf Einnahmen unterscheiden sich massiv. Einige Medikamente erzielen Jahresumsätze von mehreren Milliarden Euro. Neuere Antibiotika dagegen liegen häufig unter 100 Millionen Euro. Das heißt, die Firmen haben bei vergleichbarem Risiko die Aussicht auf vielfach höhere Einnahmen, wenn sie auf Krebsmittel statt auf Antibiotika setzen.

Dementsprechend fließt der Großteil der Investitionen der Pharmabranche in die Erforschung von Medikamenten gegen Krebs und chronische Erkrankungen. Finanziell zahlt sich das offensichtlich aus: Ein Konzern nach dem anderen erhöht derzeit seine Umsatzerwartung - so auch Novartis. Der Schweizer Pharmariese hat sich 2018 aus der Antibiotikaforschung zurückgezogen.

Milliardengewinn, aber kein Geld für Antibiotikaforschung

Jörg Reinhardt.

Ein Investment in Antibiotika sei nicht mehr zu rechtfertigen gewesen, so Jörg Reinhardt.

Auf der Generalversammlung Ende Februar dieses Jahres verkündete der Konzern stolz seine Bilanz für das zurückliegende Jahr: mehr als 12 Milliarden Dollar Gewinn - ein Plus von 64 Prozent. Das Thema Antibiotika sprach dort jedoch keiner der Chefs auf der Bühne an. Erst nach einer kritischen Frage einer Aktionärin räumte der Vorsitzende des Verwaltungsrats, Jörg Reinhardt, den Ausstieg ein. Es sei einfach die Perspektive des Unternehmens gewesen, "dass wir nicht genügend Fortschritt gemacht hätten, um ein Investment in diesem Bereich der Forschung zu rechtfertigen verglichen mit anderen Investments in andere Forschungsbereiche, die wir machen", sagte Reinhardt.

Frust bei ehemaligem Antibiotikaforscher

Im Juli 2018 entließ der Konzern überraschend 140 Mitarbeiter, die an Mitteln gegen Infektionskrankheiten gearbeitet hatten. Einer von ihnen war Wouter Schul. Der Wissenschaftler lebt in der Bucht von San Francisco, wenige Autominuten vom Novartis-Forschungszentrum entfernt, wo er an Antibiotika arbeitete. Jetzt hat er einen neuen Arbeitgeber und forscht zu anderen Medikamenten.

Wouter Schul.

Wouter Schul hat jahrelang für Novartis an Antibiotika geforscht. Im Juli 2018 wurde er entlassen, mit etwa 140 Kollegen.

Als Wouter Schul die Aussage von Jörg Reinhardt hört, ärgert er sich. "Er stellt es so dar, als ob nicht genug Fortschritte gemacht wurden im Vergleich zu anderen Gebieten", sagt Schul. "Und das ist nicht schön zu hören." Denn intern habe es immer geheißen, es gebe großartige Fortschritte, wenn auch mit Risiken. "Aber am Ende hieß es, die Kosten, seien nicht gerechtfertigt wegen der geringen Erlöse, mit denen man rechnete", sagt Schul. Die Entscheidung, die Forschung zu stoppen sei "natürlich extrem enttäuschend und frustrierend" gewesen. "Für einen Medikamenten-Entwickler ist das echt hart, gesagt zu bekommen, du musst aufhören, obwohl du denkst, dass es wohl funktioniert."

Auch Novartis lehnte ein Interview zu der Entscheidung ab. Das Unternehmen schrieb lediglich, man priorisiere andere Bereiche, in denen man besser positioniert sei.

Industrie-Allianz gegen Resistenzen

Die Internetseite der AMR Industry Alliance.

Etwa 100 Unternehmen schlossen sich 2016 der AMR Industry Alliance an, einer Allianz zum Kampf gegen Resistenzen.

Dabei hatte sich auch Novartis - wie damals Bayer - noch kurz vor dem Ausstieg öffentlichkeitswirksam zur Antibiotikaforschung bekannt. Erst Anfang 2016 hatte der Konzern zusammen mit etwa 100 anderen Firmen eine Erklärung zum Kampf gegen die Resistenzen unterzeichnet.  Sie versprachen, unter anderem in die Entwicklung von Antibiotika zu investieren und gründeten die sogenannte "AMR Industry Alliance" - eine Allianz gegen Resistenzen. Zu den Gründungsmitgliedern gehörten auch die Großkonzerne Johnson & Johnson, Sanofi und AstraZeneca, die mittlerweile ihre Antibiotikaforschung gestoppt haben.

Die Pharmariesen Pfizer und Allergan haben die Erklärung ebenfalls unterzeichnet. Nach Einschätzung von Branchen-Insidern entwickeln aber auch sie keine neuen Antibiotika-Wirkstoffe. Auf Anfrage des NDR antwortete Allergan allgemein, es forsche weiter zur Behandlung von Infektionskrankheiten. Auf Nachfrage, ob dies tatsächlich neue Antibiotika umfasse, hat das Unternehmen nicht mehr geantwortet. Pfizer verwies wiederholt auf ein Studienprogramm zu einer Kombination aus zwei Präparaten, die beide allerdings schon seit Längerem eingesetzt werden - also keine Neuentwicklungen sind.

Insgesamt, so zeigen die Recherchen des NDR, ist inzwischen fast die Hälfte der Unterzeichner-Firmen, die 2016 zu Antibiotika geforscht haben, nicht mehr in dem Bereich aktiv. Darunter sind auch viele kleine und mittelständische Unternehmen. Alleine - ohne die Finanzkraft der großen Konzerne - können sie in der Regel die hohen Ausgaben für die Entwicklung und eine eventuell anschließende Herstellung und Vermarktung nicht stemmen.

Der Markt versagt

Offensichtlich versagt der Markt an einem ganz entscheidenden Punkt. Es wird kaum mehr zu lebenswichtigen Medikamenten geforscht, zu Mitteln, die das Rückgrat der gesamten modernen Medizin darstellen. "Die Politik muss sich überlegen, wie können wir das System verändern", sagt Peter Beyer von der WHO. Ideen, wie eine Lösung aussehen könnte, gibt es. Allerdings gehen sie in unterschiedliche Richtungen. Während die Pharmabranche mehr Geld für Antibiotika fordert, damit es sich für sie wieder lohnt, sagen andere, der profit-orientierte Ansatz werde in diesem Bereich niemals funktionieren. Deshalb müssten die Staaten überlegen, ob sie diesen Bereich komplett übernehmen, etwa wie bei der Trinkwasserversorgung.

In der Bundesregierung scheint das Thema aber derzeit nicht oben auf der Agenda zu stehen. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) wollte kein Interview geben. Sein Haus teilte schriftlich mit, man wolle sich auf europäischer Ebene dafür einsetzen, dass "weitere Anreize und Erleichterungen für die Entwicklung und Zulassung von neuen Antibiotika geprüft werden". Und das Bundesforschungsministerium verweist auf die bereits laufenden Initiativen und Förderprogrammen. 50 Millionen Euro pro Jahre gebe die Regierung insgesamt für den Kampf gegen resistente Keime aus. Die Kosten für die Entwicklung eines einzigen Medikaments schätzen Experten allerdings auf etwa eine Milliarde Euro - und nötig wären jedes Jahr im Idealfall mehrere neue Antibiotika.

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Das Erste | Panorama | 12.09.2019 | 21:45 Uhr