Stand: 08.10.15 11:12 Uhr

"Falsche Syrer": Wie der Innenminister Gerüchte schürt

von Robert Bongen & Stefan Buchen

In der Flüchtlingsfrage ist es für manche Politiker offenbar wichtig, deutlich zu machen, dass ein erheblicher Teil der Asylsuchenden nicht hier bleiben darf. Im Sommer waren Menschen vom "Westbalkan" die "schlechten Flüchtlinge", die kein Bleiberecht in Deutschland haben. Inzwischen ist die Zahl der Asylbewerber aus Serbien, dem Kosovo und den Nachbarstaaten merklich zurückgegangen, nicht aber die Zahl der Flüchtlinge insgesamt. Die ist wegen der katastrophalen Lage im Nahen Osten und in Ostafrika nach wie vor hoch. Die mit Abstand größte Gruppe sind Schutzsuchende aus dem Kriegsland Syrien. Bundesinnenminister Thomas de Maizière behauptet nun, "30 Prozent" der Asylsuchenden gäben sich als Syrer aus, seien in Wahrheit aber gar keine. 30 Prozent? Das hieße, 100.000 Personen wollten sich unter dem Deckmantel einer falschen Identität Bleiberecht und Sozialleistungen in Deutschland erschleichen.

"Falsche Syrer": Wie der Innenminister Gerüchte schürt
Bundesinnenminister Thomas de Maizière behauptet nun, "30 Prozent" der Asylsuchenden gäben sich als Syrer aus, seien in Wahrheit aber gar keine. Doch für diese Zahl fehlt jeder Beleg

Schätzungen und schwammige Antworten

Woher stammt die Zahl? Bei Nachfragen wird das Bundesinnenministerium schmallippig. Bei den 30 Prozent handele sich um eine "Schätzung", die auf Erhebungen der Bundespolizei, des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und der EU-Grenzschutz-Agentur Frontex beruhten, teilt zunächst der Sprecher des Innenministers mit. Bohrt man weiter nach, kommt heraus: "Es werden weder bei der Bundespolizei noch im Bundesministerium des Innern Statistiken geführt, wie viele Menschen in Deutschland fälschlicherweise behaupten, syrische Staatsbürger zu sein", teilt das Bundesinnenministerium auf Panorama-Anfrage mit.

Frontex und BAMF haben lediglich gefälschte syrische Pässe, die von Flüchtlingen vorgelegt wurden, gezählt. Das ist keine Statistik, höchstens ein Indikator. Das Ergebnis ist jedenfalls mickrig. Im Jahr 2015 hat das BAMF 116 falsche syrische Pässe "beanstandet".  Die Mitarbeiter von Frontex haben zwischen der Türkei und Ungarn, Griechenland und Italien insgesamt 170 Passfälschungen festgestellt. Und das Bemerkenswerte: Mehr als achtzig Prozent der Inhaber dieser falschen syrischen Papiere seien tatsächlich Syrer gewesen, teilt Frontex auf Anfrage von Panorama mit. Viele Syrer besitzen keine Reisepässe und können in der Kriegssituation im Heimatland auch keine beantragen.

Vorurteile statt Statistiken

Ein Polizist steht im Erstaufnahmelager für Flüchtlinge in Friedland vor wartenden Flüchtlingen. © dpa-Bildfunk Foto: Swen Pförtner

30 Prozent falsche Syrer in Friedland? Das glaubt vor Ort niemand.

Das von höchster Stelle gestreute Vorurteil fällt jedenfalls auf fruchtbaren Boden. "Ein Drittel" seien keine richtigen Syrer, sagt ein Bürger, der direkt neben dem Erstaufnahmelager in Friedland wohnt, in dem zur Zeit 3.500 Flüchtlinge untergebracht sind, gut Tausend von ihnen Syrer. Der Leiter des Flüchtlingslagers Heinrich Hörnschemeyer stellt im Panorama-Interview klar: "Jeder Dritte ein falscher Syrer? Das hätten wir gemerkt! Nein, diese Zahl haben wir hier in Friedland nicht. Hier gibt es höchstens ein paar Einzelfälle, in denen falsche Angaben gemacht werden."

Die Zahl der Schwindeleien gehe durchaus nach oben, betont die Grenzschutz-Agentur. Aber 30 Prozent? Fast jeder dritte Syrer ein falscher Syrer? Auch Polizisten, die im deutsch-österreichischen Grenzgebiet im Einsatz sind und Panorama ihre Eindrücke übermittelten, bezweifeln diese Zahl. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Schwindler mit einer falschen syrischen Identität Asyl und die dazugehörigen Leistungen bekommt, ist zudem äußerst gering. Das BAMF betont, wie akribisch seine Mitarbeiter die Angaben der Flüchtlinge zu ihrer Identität prüfen. Mit Hilfe vereidigter Dolmetscher finde eine "Sprach- und Textanalyse" statt. Dabei fliegt beispielsweise ein Asylbewerber, der zwar Arabisch, aber einen anderen Dialekt als den Syrischen spricht, leicht auf.

"An den Haaren herbeigezogen"

Martin Link, der Vorsitzende des Flüchtlingsrates Schleswig-Holstein, hält die Zahl von 30 Prozent "falscher Syrer" für "hanebüchen" und "an den Haaren herbeigezogen". In Umfragen und Nachforschungen seiner Mitarbeiter in Erstaufnahmeeinrichtungen, Notunterkünften und an Bahnhöfen habe man einen solchen massenhaften Schwindel nicht feststellen können. In der Bevölkerung sorge der Bundesinnenminister mit seinem verbalen Vorstoß für Verunsicherung, meint Link. "Wenn ein Flüchtling kein richtiger Syrer ist, dann ist er vielleicht auch kein richtiges Opfer." De Maizière solle aufhören zu zündeln. Auf Nachfrage von Panorama zeigt der Innenminister sich beharrlich und sagt, die 30 Prozent seien "eher noch untertrieben."

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 08.10.2015 | 21:45 Uhr