"Man fühlt sich vollkommen machtlos"

Eine ganz "normale" 6. Klasse an einer Hamburger Stadtteilschule: 22 Schüler aus zehn Nationen, einige mit Lernbehinderungen. Anja Reschke und Birgit Wärnke haben erlebt, welche Anforderungen Lehrer heute meistern müssen.

Birgit Wärnke und Anja Reschke im Interview

Was ist eigentlich schwieriger - Moderieren oder Unterrichten?

Anja Reschke, Birgit Wärnke © NDR

Anja Reschke und Birgit Wärnke, Autorinnen des Films "Lehrer am Limit".

Anja Reschke: Das ist eine lustige Frage, weil Moderieren und Unterrichten tatsächlich sehr ähnliche Tätigkeiten sind, wie ich feststellen musste. Man steht vor einem "Publikum", dem man gerne etwas mitgeben möchte und das sich nicht langweilen darf. Der größte Unterschied ist, dass man nicht jeden Tag, Montag bis Freitag, acht Stunden durch moderiert. Das würde man nicht durchhalten.

Trotzdem sind Sie vier Wochen lang in die Schule gegangen und haben dort den Schulalltag beobachtet. Welches Fazit ziehen Sie?

Reschke: Schule hat sich seit meiner Zeit doch sehr verändert. Das Leistungsniveau in Klassen ist so unterschiedlich, dass man als Lehrer alleine diese Bandbreite nicht bedienen kann. Und nun kommen noch Inklusionskinder, also Kinder mit Lernbehinderungen oder Aufmerksamkeitsstörungen dazu. Schulen müssen alles auffangen, was es an gesellschaftlichen Problemen gibt. Dafür sind aber Lehrer oft nicht ausgebildet und Schulen nicht entsprechend ausgestattet.

Birgit Wärnke: Das, was Lehrer vor allem in Stadtteilen, die von ihrer Struktur heterogener sind, in den Schulstunden leisten, verdient wirklich hohe Anerkennung: Jeden Tag Kinder zu motivieren etwas zu lernen, auch wenn die darauf überhaupt keine Lust haben, jeden Tag den Geräuschpegel von 20 bis 30 Schülern auf ein erträgliches Maß zu reduzieren und jeden Tag zu schauen, ob man als Lehrer auch allen Kindern gerecht wird: Der Lehrer müsste sich eigentlich zerteilen oder klonen, um wirklich allen gerecht zu werden. Konstant doppeltbesetzter Unterricht würde sicher schon helfen, auch Schulbegleiter für Kinder, die besonderen Förderbedarf haben oder leistungsstarke Schüler, die die schwächeren unterstützen. Problematisch ist es dann, wenn gar keine starken Schüler auf den Stadtteilschulen/Gesamtschulen sind, weil sie Gymnasien besuchen.

Handelt es sich hier um das Einzelproblem einer speziellen Schule in einem speziellen Hamburger Stadtteil?

Wärnke: Nein. Wir haben zwar nur an einer Schule gedreht, aber schon während unserer Recherche haben wir erfahren, dass auch viele andere Lehrer und Direktoren ernsthafte Probleme an ihren Schulen haben. Hinter vorgehaltener Hand berichteten sie ähnliches, was wir in Hamburg-Wilhelmsburg erlebt haben. Darunter waren übrigens auch Schulen aus besser situierten Stadtteilen.

War es schwer, eine Schule zu finden?

Wärnke: Ja, sehr. Wir haben knapp 20 Schulen angeschrieben, mit den Schulleiter/innen telefoniert und uns vor Ort Eindrücke verschafft. Das Bild war überall ähnlich: die Anforderungen, die neuerdings an Lehrer und Schule insgesamt gestellt werden, sind einfach zu hoch. Oft fehlt es an Personal, an Geld, an Zeit, an Aus- und Fortbildung. Und trotzdem, bei so vielen offenkundigen Problemen war ich sehr überrascht, dass fast niemand die Schultore für ein Kamerateam öffnen wollte. Die meisten Schulleiter sorgten sich um die Anmeldezahlen. Die Befürchtung war, wenn die Öffentlichkeit erfährt, welche Probleme es an der Schule gibt, bleiben die Schüler aus und gehen lieber zur Nachbarschule. Das heißt: die Probleme sind da, aber aus Existenzangst werden sie nicht öffentlich angesprochen.

Reschke: Dabei wäre es so wichtig, dass die Gesellschaft in diese "black box" Schule hineinsehen kann. Auch um den Schulen und den Lehrern zu helfen. Von daher kann man den Mut unseres Schulleiters Kay Stöck, uns wochenlang drehen zu lassen, gar nicht hoch genug loben.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 22.08.2013 | 21:45 Uhr