Justizskandal - Rostocker Gewalttäter noch immer ohne Strafe

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Es war das beschämendste Bild, das Deutschland in den letzten zehn Jahren abgegeben hat. Steine fliegen, Molotowcocktails. In der Aufnahmestelle für Asylbewerber panische Angst. Menschen verschanzen sich. Draußen neben hunderten Rechtsradikalen eine aufgeheizte Meute von Anwohnern, die Beifall klatscht, viele mit der Hand zum Hitlergruß. Rostock-Lichtenhagen im August 1992. Bilder, die die ganze Welt erschütterten - Deutschland wieder ausländerfeindlich. Und einige Richter aus Mecklenburg-Vorpommern sinken in Tiefschlaf. Denn nur so ist zu erklären, dass heute - zehn Jahre nach den Anschlägen - erstmals drei Tatverdächtige vor Gericht stehen.

Schwerin, Landgericht. Heute wie seit Wochen Schauplatz für einen Prozess der besonderen Art. Die Vorwürfe: Versuchter Mord, schwere Brandstiftung, schwerer Landfriedensbruch. Die zwei Angeklagten geben keinen Kommentar, sind kamerascheu. Der dritte Angeklagte wird aus dem Gefängnis zum Prozess geführt. Er sitzt derzeit wegen anderer Delikte. Alle drei eint ihr Hass gegen Fremde.

Rostock-Lichtenhagen, August 1992. Steine und Molotowcocktails gegen Ausländer. Diese Bilder gingen um die Welt, mit der Fratze des bösen Deutschen. Tausende johlten, die Angeklagten mittendrin. Heute. Erst vor wenigen Wochen wurde der Prozess eröffnet, fast zehn Jahre nach dem Verbrechen. Der Richter hatte den Fall liegen lassen, setzte andere Prioritäten. Jetzt haben die Zeugen Erinnerungslücken. Beweismittel sind verschwunden.

Die Angeklagten wurden wegen der Krawallnächte nie behelligt, konnten danach ungeniert weitermachen, als Gesinnungstäter und Kriminelle. Ihr Strafregister nach Rostock-Lichtenhagen:

Ronny S.: Unter anderem verurteilt wegen Körperverletzung. 1994, 95, 96. Das sitzt er jetzt ab.

Andre B.: Unter anderem verurteilt wegen Körperverletzung, Diebstahls, Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte.

Enrico P.: Unter anderem verurteilt wegen Betrugs und diverser Körperverletzungsdelikte.

Justizkandal - Rostocker Gewalttäter noch immer ohne Strafe
Erst zehn Jahre nach dem Anschlag auf ein Asylbewerberheim in Rostock-Lichtenhagen stehen 2002 Verdächtige vor Gericht.

Damals. Auch wenn die Angeklagten bestreiten, Steine und Molotowcocktails auf Menschen und Häuser geworfen zu haben, nahe dran am Geschehen waren sie auf jeden Fall. Und mindestens Enrico P. - das zeigen diese Videoaufnahmen zweifelsfrei - war mittendrin. Eine Freundin, die mit ihm und den anderen hierher gekommen war, ging kurz nach der Brandnacht zur Polizei, um auszusagen. Zitat aus dem Vernehmungsprotokoll:

"Von Ronny S., Andre B. und Enrico P. habe ich mitbekommen, dass sie Mollis gegen das Haus warfen."

Heute, zehn Jahre danach, sagt dieselbe Zeugin vor Gericht, sich an nichts erinnern zu können. Damals, nach ihrer ersten Aussage, war sie verprügelt worden. Auch andere Zeugen wollen oder können sich an nichts erinnern. Die Anklage wird immer brüchiger und nicht nur das: Mittlerweile sind die Anklagepunkte wegen Landfriedensbruchs und Brandstiftung als Einzeltaten längst verjährt. Die Angeklagten dürfen sich freuen und dem Richter für die lange Verschleppung dankbar sein. Die Täter von damals haben also wenig zu befürchten. Ihre Verteidiger frohlocken bereits.

Ullrich Knye, Verteidiger: "Aus meiner Sicht ist der Stand des Verfahrens so, dass hier im Grunde genommen nur ein Freispruch in Frage kommt. Das liegt einfach daran, weil der tatsächlich zugegebene Landfriedensbruch verjährt ist und die in Frage kommenden Branddelikte ebenfalls verjährt sind, so dass hier also nur noch - im Grunde genommen nur noch verhandelt wird - in Anführungsstrichen - über diese Mordanklage. Und da gibt es aus meiner Sicht im Moment überhaupt keine Beweise."

Ihn traf das Glück der Verjährung schon. Sven M. Kurz vor Prozessbeginn wurde die Anklage wegen Landfriedensbruchs gegen ihn fallengelassen. Er braucht keine Strafe mehr zu fürchten. Jetzt kommt er als ahnungsloser Zeuge zum Prozess, nicht mehr als Täter. Für das Landgericht Schwerin offenbar alles kein Problem.

Hartmut Eichler, Gerichtspräsident LG Schwerin: "Also ich kann Schlamperei hier bei uns bei Gericht nicht entdecken."

"Immerhin ist ja ein Verfahren deswegen verjährt, aus diesen vieren. Eines musste ja eingestellt werden, weil der Landfriedensbruch verjährt war nach fünf Jahren."

Eichler: "Ja, nach meiner Kenntnis ist es so, dass diese Verjährung erst sehr spät überhaupt entdeckt worden ist. Das hängt damit zusammen, dass Verjährung eingetreten ist gegen einen Angeklagten, dem andere Straftaten vorgeworfen werden als den anderen."

Damals. Die Brandnacht von Rostock-Lichtenhagen wurde zu einem Synonym für Fremdenhass in Deutschland. Die Bilder der Gejagten in Todesangst prägten sich ein. Aber in Mecklenburg-Vorpommern hat man sie offenbar vergessen. Niemand will es gewesen sein. Keine Genugtuung für die Opfer von damals.

Heute. Er, der Staatsanwalt, hat bereits vor sieben Jahren Anklage erhoben, will aber zur Verschleppung des Verfahrens nichts sagen. Er, der Richter, hat die Anklageschrift sieben Jahre liegenlassen, gibt dafür lieber keinen Kommentar.

"Herr Heydorn, ....."

Horst Heydorn, Richter: "Nein."

"1995 wurde die Anklage erhoben."

Auch der Gerichtspräsident weist die Verantwortung weit von sich. Seine Ausflüchte: Überlastung und Personalmangel.

Hartmut Eichler: "Wir haben bestimmte Kapazitäten, auch Richterkapazitäten hier beim Landgericht, und diese Kapazitäten sind erschöpft."

Das wiederum bestreitet der Justizminister. Er kann diese Beschwerde nicht nachvollziehen. Seine Gegenrede:

Erwin Sellering, Justizminister Mecklenburg-Vorpommern, SPD: "Natürlich haben wir das Personal, das nötig ist, um die Aufgaben zu erfüllen. Wir haben nicht Personal über, unser Personal ist knapp, aber es ist ausreichend."

Aber Verantwortung will auch er nicht übernehmen, obwohl er immerhin ein klares Eingeständnis macht:

Sellering: "Dieser Ausreißer ist nicht zu rechtfertigen."

Die Taten von Rostock-Lichtenhagen - verjährt und verschleppt, und niemand ist es gewesen. Auch nicht diejenigen, die damals zuständig waren. Denn früher saßen noch andere an den Schalthebeln der Justiz.

Der ehemalige Generalstaatsanwalt, damals verantwortlich für die Ermittlungen, verweist heute auf die Politik:

Alexander Prechtel, CDU, Generalstaatsanwalt Mecklenburg-Vorpommern 1990-99: "Ich halte dieses für einen Fall, der schon politische Dimension erreicht hat. Ich glaube, dass dies schon ein Fall ist, wo es auch um politische Verantwortung geht."

"Wer trägt die?"

Prechtel: "Die politische Verantwortung im Bereich der Justiz trägt ein Justizminister. Dafür ist er Justizminister."

"Herr Ringstorff in dem Fall?"

Prechtel: "In der Zeit, als das Verfahren verjährte, war Herr Ringstorff Justizminister, das ist richtig."

Der damalige Justizminister verweist auf bürokratische Formalien.

Harald Ringstorff, SPD, Justizminister Mecklenburg-Vorpommern 1998-2000: "Dem Minister muss ja etwas gemeldet werden, und die Berichtspflicht liegt woanders. Ich will hier jetzt keine Streitereien machen, man kann ja vielleicht auch weiterfragen, Sie können ja jeden Justizminister fragen."

Und auch der heutige Justizminister versteckt sich hinter der Aktenlage.

Erwin Sellering: "Anhand der Akten lässt sich nicht feststellen, dass irgendjemand mal gesagt hat, jetzt heben wir die Berichtspflicht auf, sondern es ist einfach nicht mehr ans Ministerium berichtet worden."

Ganz einfach vergessen, was damals geschah - wie gut für die Angeklagten.

P.: "Tja."

"Und die Schuld?"

P.: "Entschuldigt habe ich mich, mehr kann ich nicht tun."

Seinem Kumpel kommt noch nicht einmal das in den Sinn.

B.: "Ich bin mir keiner Schuld bewusst. Ich hab nichts gemacht, und so wird das auch sein."

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 10.01.2002 | 20:15 Uhr