Bilder, Berichte, Betroffenheit - Die Medien und die Katastrophe

Lange haben wir nicht mehr so viel vor dem Fernseher gesessen, nicht mehr so viel Zeitung gelesen. Die Bilder aus dem USA waren so schockierend, dass man sie hundert mal ansehen musste, um das Geschehene überhaupt zu begreifen. Uns Medienvertreter ging es genauso, aber für uns ist ein solches Ereignis in erster Linie Arbeit. Da bleibt oft keine Zeit, mit dem Geschehenen fertig zu werden oder die Informationen auch für sich zu verarbeiten. Ständig müssen neue Bilder gesendet oder Berichte verfasst werden. Wir flüchten uns in Professionalität. Emotionen sind nicht erwünscht. Die Bilder haben sich eingebrannt, gehen Ihnen und uns nicht aus dem Kopf und werfen Fragen auf, auch an die, die über die Katastrophe berichten, berichten müssen.

Bilder, Berichte, Betroffenheit: Medien und die Katastrophe
Seit 9/11 berichten die Medien wie am Fließband. Kaum Zeit, sich zu fragen, welche Aufnahmen man lieber nicht zeigen sollte.

Terror, das erste Mal live im Fernsehen. Bilder, die niemand aus dem Kopf bekommt, der sie miterlebt hat.

Reaktionen von Passanten: "Erstmal hab' ich gedacht, das wär' ein Film." "Und wie der Turm dann noch zusammensackte. Also das sind Bilder, die man nicht vergessen kann." "Die Leute, die da aus dem Tower gesprungen sind, die versucht haben sich zu retten."

Mit Abstand betrachten Medienwissenschaftler die Bilder der ersten Stunde, enttarnen sie als Teil des Attentats. So Medienwissenschaftler Dr. Martin Löffelholz: "Die Medien haben den Terroristen genutzt, ohne es zu wollen. Denn die Medienberichterstattung funktioniert nun mal nach bestimmten Regeln, und eine dieser Regeln ist: Versuche die Bilder möglichst schnell zu publizieren. Und das ist in diesem Fall geschehen. Die Terroristen haben insofern die Regeln der Medienberichterstattung schlicht nur ausgenutzt."

Im Studio der ARD in Washington haben die Korrespondenten kaum Zeit, die Bilder zu verarbeiten, sie müssen sofort auf Sendung. Die eigenen Gefühle im Griff haben - unerlässlich in so einer Situation.

ARD-Korrespondent Claus Kleber: "Ich hab' zum ersten Mal - am Samstagmorgen hatte ich endlich mal Zeit, etwas außer im Büro und Schlafen zu tun - und Schlafen war nicht viel - das war Joggen am Potomac entlang, für eine halbe Stunde. Und da war so eine Morgenstimmung, und da hat's mich einfach eingeholt, und da bricht das dann einfach raus. Ich hab' angefangen zu heulen beim Joggen, weil irgendwie die Woche dann sich Bahn brach. Da merkt man erst, was man alles zurückgehalten hat."

Gleich nach der Tagesschau lief die nächste Sendung. Es berichtete Patricia Schlesinger. In Deutschland wollen alle wissen, ob und wenn ja wann der Krieg beginnt. Dann, meint sie, müsse man auch so ehrlich sein und sagen: Herr Wickert, Frau Will, ich weiß es nicht.

Claus Kleber und Patricia Schlesinger leben beide mit ihren Familien in Washington. Der 11. September hat ihre Sicht auf das Land und seine Menschen verändert. Denn plötzlich teilen sie ungewollt die Sorgen und Hoffnungen der Amerikaner.

"Man fühlt sich, wenn man hier lebt und wenn man Familie hier hat, jetzt natürlich auch selbst angegriffen", so Claus Kleber.

ARD-Korrespondentin Patricia Schlesinger berichtet: "Wir haben sofort miteinander telefoniert: Wo bist du, wo ist die Tochter, ist alles okay? Na klar. Wir sind jetzt vorsichtiger geworden."

Und Claus Kleber: "Natürlich wird man dann in diese amerikanische Solidarisierung der Opfer in dem Fall mit eingebunden ein Stück weit."

"Man hat sich klar gemacht", erzählt Patricia Schlesinger weiter, "dass wir wahrscheinlich doch näher an den Amerikanern dran sind, als es uns häufig so passt und als wir häufig in intellektuellen, vielleicht auch ideologischen Auseinandersetzungen das gewohnt waren zu denken, sag' ich mal."

Trotz der Bilderflut: Nirgendwo auch nur eine einzige Leiche. Ein Pressekodex, den die sonst wenig zimperlichen US Networks strikt einhalten.

Patricia Schlesinger: "Ich halte es für absolut richtig. Wir brauchen nicht, um das Grauen zu ermessen, Leichenteile, zerfetzte Körper, Torsi, Arme, Beine sehen, um zu begreifen, was da passiert ist."

In Washington zeichnet die ARD amerikanische Sendungen auf. Dabei wird deutlich, dass die amerikanischen Journalisten das Attentat mit ganz anderen Augen sehen, so Claus Kleber: "Ich hab' den Eindruck, in Deutschland macht man sich nur noch Sorgen darüber, was jetzt die Amerikaner Schreckliches tun könnten, während in Amerika man sich immer noch sehr viel Sorgen darüber macht, was die Terroristen als Nächstes Schreckliches tun könnten. Das sind zwei völlig unterschiedliche Perspektiven."

In den ersten Stunden fesseln die Bilder die Menschen an die Bildschirme - überall in Deutschland. Danach: Trauer, Verzweiflung und Angst vor der Eskalation - die deutsche Perspektive.

Eindrücke der Leute: "Da standen die Menschen oben am Fenster, mussten sich jetzt entscheiden, ob sie nun springen sollten oder lieber verbrennen sollten. Und das ist für mich eine ganz grausame Atmosphäre oder Situation. Also das ist mir sehr nahe gegangen, und daran nage ich noch, muss ich sagen."

"Das ist das Schlimmste, was ich in den letzten Jahren gesehen hab' im Fernsehen, und die Bilder kommen einem auch immer wieder. Und man hat Angst um die Familie, und man denkt nur: Hoffentlich kommt kein Krieg."

Vor allem Kinder saßen vor dem Fernseher, als das Attentat übertragen wurde. Es war drei Uhr nachmittags. Beim Kinderkanal in Erfurt meldeten sich die ersten Zuschauer schon nach zehn Minuten per Fax: "Ich finde es total schlimm, was gestern in den USA passiert ist. Wird das World Trade Center, also die Zwillingstürme, neu aufgebaut, oder würde dann ein zweiter Anschlag auf das Gebäude ausgeübt?"

Oder Alexander, 12 Jahre schreibt dem Kinderkanal: "Ich finde, dass das ja zu einem Weltkrieg führen kann. Ich finde so etwas hirnverbrannt. Unser Leben kann ja davon abhängen."

Jeanette Bargel arbeitet beim Kinderkanal. Ihre Interpretation: "Also ganz klar: die Ängste vor einem dritten Weltkrieg."

Fünf Jahre alt war das jüngste Anrufer - allein zu Hause vor dem Fernseher. Die Pädagogen am Zuschauertelefon geben immer denselben Rat: darüber reden, am besten mit den Eltern. Anders hätten Kinder keine Chance, die Bilder zu bewältigen.

Trauma-Experte Professor Peter Riedesser: "Solche Bilder wirken auf Kinder sehr erschreckend. Es führt dazu, dass die Kinder zweifeln an der Welt, die die Erwachsenen für sie hergestellt haben und verwalten. Und Kinder fürchten dann, je nach Altersstufe, dass das schnell auch bei uns passieren kann."

Der Kinderkanal hat in mehreren Sondersendungen die Fragen beantwortet und vor allem beruhigt. Dann in der Live-Sendung Kikania geht es auch mal um Sportunterricht, denn die Redakteure wollen die Kinder nicht mit Katastrophenbildern überfrachten, vor allem weil sie wissen, was sie nicht können.

Brita Bachmann von der Zuschauerredaktion: "Es ist deshalb so schwer, weil man weiß, dass man den Kindern die Angst nicht vollständig nehmen kann. Das kann man nicht, weil man selber nicht weiß, was passieren wird."

Tagelang sind die Zeitungskioske ausverkauft. Das Papier wird knapp. Alle drucken Sonderausgaben. Sogar die Bravo titelt Trauer. Und immer wieder das Schreckenswort: Krieg.

"Das Wort Krieg führt in uns allen zu einem Alarmzustand", sagt Trauma-Experte Riedesser. "Denn das bedeutet ja Lebensbedrohung, Todesangst, Angst vor Zerstörung der Lebensgrundlagen und alarmiert uns psychisch und biologisch. Und wenn man das Wort Krieg oder Kriegserwartung oder Kriegsdrohung in den Raum stellt, dann kann man befürchten, dass in uns allen alte Reflexe von Schutz, von Verteidigung, von Angriff mobilisiert werden, die jegliche Besonnenheit verhindern."

Besonnen sollen Journalisten sein, nachdenklich. Zum Beispiel im sechsten Stock des Axel-Springer-Hochhauses in Hamburg. Dort werden Schlagzeilen gebastelt - voller Gefühle, aber nicht immer gefühlvoll. Ein Zitat: "Terror-Bestie - wir wünschen dir ewige Hölle."

Claus Strunz, Chefredakteur der "Bild am Sonntag": "Nicht alle waren sehr glücklich darüber, denn hier, könnte man sicherlich sagen, ist eine gewisse Grenze überschritten. Wichtig dabei ist aber, dass Zeitungen eben auch von Menschen gemacht werden und Sie auch an der Dramaturgie von Schlagzeilen sehen können, wie sich eine Emotion aufbaut. Hier, würde ich sagen, ist sie sozusagen mit den Blattmachern ein Stückchen zu sehr durchgegangen."

Stärker noch als Worte: Bilder. Die Aufnahmen jubelnder Palästinenser flimmerten wenige Stunden nach dem Anschlag weltweit über die Bildschirme. Sie erwecken den Eindruck, die halbe Stadt wäre auf den Beinen, um den Tod Tausender Amerikaner zu feiern. So die grausame Aussage der Bilder zumindest auf den ersten Blick.

Medienwissenschaftler Professor Martin Löffelholz interpretiert: "Diese Bilder von jubelnden Palästinenserkindern, auch von einigen Erwachsenen, zeigen Einzelne, die sich offensichtlich freuen. Ob sie sich über die Anschläge freuen, weiß ich nicht. Ich vermute das, weil es uns so in der Berichterstattung gesagt worden ist, ich weiß es nicht. Der Kontext, der Entstehungskontext ist mir unklar."

Bei genauer Betrachtung des vollständigen, nicht gesendeten Bildmaterials fällt auf, dass es auf der Straße drumherum ruhig ist. Nur vor der Kamera eine Gruppe aufgekratzter Kinder. Die Frau, die mit ihrem Freudentaumel in Erinnerung bleibt, geht kurz darauf ungerührt weiter. Auffällig ein Mann in einem weißen T-Shirt. Er stachelt die Kinder an, und er holt immer wieder neue Leute ran.

Die Frau, die gerade gegangen ist, sagt heute, man habe ihr Kuchen versprochen, wenn sie sich vor der Kamera freut. Sie selbst sei entsetzt gewesen, als sie die Bilder im Fernsehen sah. Niemals habe sie sich über den Anschlag auf die USA gefreut. Wahrheit? Inszenierung?

Vom Drehort in Jerusalem hatte eine Bildagentur das Material nach London überspielt, zur Zentrale. Von hier aus wird es zu Fernsehsendern in der ganzen Welt verteilt - unter dem Titel: Palästinenser feiern in Jerusalem.

Per Satellit kommen die jubelnden Palästinenser auch nach Deutschland. Hier laufen Bilder aus aller Welt auf, Bilder, die starke Gefühle hervorrufen, aber nicht unbedingt Abbild der Wirklichkeit sind.

"In Krisen und Kriegssituationen", so Medienwissenschaftler Löffelholz, "ist eine gehörige Portion Distanz auch des Zuschauers, auch des Lesers zu dem, was von Journalisten verbreitet wird, notwendig. Das hat damit zu tun, dass auch Journalisten Fehler machen, dass auch Journalisten dem Informationsmanagement von Politik und Militär aufsitzen."

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 20.09.2001 | 21:45 Uhr