"Wegsperren für immer" - Eine Kanzlerparole und die Wirklichkeit

von Bericht: Annette Krüger-Spitta

Kinderschänder - "wegsperren für immer". Markige Worte von Bundeskanzler Schröder, günstig plaziert kurz vor der Sommerpause. Sie klingen wahr, gerecht, und sie treffen Volkes Seele. Problem erkannt, Problem gebannt.

Von wegen - denn alles, was der Kanzler fordert, gibt es schon. Längst erlaubt es das Gesetz, Kinderschänder in lebenslange Sicherungsverwahrung zu nehmen. Das größte Problem sind nicht Sexualmörder, die draußen frei herumlaufen und plötzlich fremde Mädchen vergewaltigen und töten, auch wenn die Berichterstattung einen anderen Eindruck vermittelt. Denn Sexualmorde an Kindern gibt es in Deutschland - Gott sei Dank - immer weniger.

Kindesmissbrauch: "Wegsperren für immer"
Panorama beleuchtet 2001 Bundeskanzler Schröders Forderung, dass Kinderschänder für immer weggesperrt werden sollen.

Kaum jemand, der ihr Bild nicht kennt: Julia. Ihre Leiche fand die Polizei in einem Waldstück bei Niddatal. Die Beamten gehen davon aus, dass Julia missbraucht worden ist. Die Eltern beerdigten ihr achtjähriges Kind. Die ganze Nation nimmt Anteil, empfindet Wut und Empörung.

Der Kanzler reagiert. Er fordert: "Kinderschänder - wegschließen für immer." Einsperren, ein Leben lang! Bei gefährlichen Sexualstraftätern ist das längst möglich.

Margot von Renesse, selbst Mutter von vier Kindern, ist Rechtsexpertin der SPD-Bundestagsfraktion. Sie kennt die Praxis. Wegsperren kann man nur Täter, die als gefährlich erkannt und eingestuft werden und sagt:

"Wegsperren als solches, als regelmäßige Folge von Sexualtaten ist ziemlich töricht. Wir müssen vernünftig unterscheiden, wo ja und wo nein. Dazu brauchen wir hervorragende Gutachter, die sich auf diesem Gebiet auch wirklich auskennen. Und das ist das Problem. Dass wir im Strafvollzug viel zu wenig Geld investieren, um diese hervorragenden Gutachter, die therapeutische Erfahrungen haben, auch gewinnen zu können."

Zudem gibt es in deutschen Gefängnissen zu wenig Therapieplätze. Gerade mal zehn Prozent der Täter werden nach Schätzungen ausreichend behandelt. So kommen Sexualstraftäter nach der Haft auf freien Fuß, oft unbegutachtet, untherapiert, als tickende Zeitbomben. Und Stimmen werden laut von Strafe statt Therapie, von Opferschutz statt Täterschutz.

Dabei sind das keine Gegensätze, so die Rechtsexpertin Margot von Renesse:

"Die Vorstellung, mehr Therapie für die Täter bedeute weniger Schutz für die Opfer, ist schlicht falsch. Dahinter steckt eine Vorstellung davon, dass die Therapie etwas besonders Angenehmes ist für die Täter und dass sie dadurch eine leichtere Möglichkeit haben, trotz Gefährlichkeit wieder auf die Menschheit losgelassen zu werden. Das trifft aber beides nicht zu, ganz im Gegenteil: Mehr Therapie im Strafvollzug vermittelt uns mehr Erkenntnisse darüber, wer wirklich gefährlich ist und wer es nicht ist, so dass man den Schutz der Opfer viel besser betreiben kann, wenn man therapeutische Erkenntnisgewinne hat."

"Opferschutz!" Immer wenn ein Kind in Deutschland ermordet wird, rückt diese Forderung in die Schlagzeilen, genauso wie die Opfer selbst.

Ulrike Brandt aus Eberswalde, Christina Nytsch aus Strücklingen, Kim Kerkow aus Varel - ihre Gesichter haben sich eingeprägt, ihre Namen bleiben in Erinnerung, auch, weil immer mehr über sie berichtet wird.

Aber in Wirklichkeit sind die Opfer von Sexualmorden unter 14 Jahren deutlich weniger geworden. Denn von 1971 bis 1980 wurden 86 missbraucht und getötet. In den achtziger Jahren wurden noch 45 Opfer registriert, und in den letzten zehn Jahren waren es 34 Kinder.

Die Gefahr auf der Straße bleibt, aber sie ist längst nicht so alltäglich wie der Missbrauch zu Hause - dort, wo niemand hinschaut.

Margot Renesse beklagt diese Situation: "Alle reden von dem fremden Mann, der irgendwo aus dem Busch kommt und ein Kind überfällt oder ins Auto abschleppt. In Wirklichkeit ist der nahe Erwachsene, der junge Freund der Mutter oder der Vetter oder der Schwager statistisch die viel, viel größere Gefahr. Sie ist deswegen so gefährlich, weil auf sie keiner achtet, weil Kinder vor ihr nicht gewarnt werden, weil Kinder in der Regel auch als Partner gelten, die nicht Respekt verdienen, weil wir insgesamt eine Einstellung zu Kindern vorfinden nach dem Motto: Kinder müssen sich alles gefallen lassen, auch jede Zärtlichkeit. Sei nett zur Tante, gib ihr einen Kuss - alles dies sind Zudringlichkeiten gegenüber Kindern, wenn sie das nicht wollen. Hier werden wir unsere Einstellung zu Kindern und zu der Gefahr aus dem familiären Nahbereich sehr ändern müssen."

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 19.07.2001 | 21:00 Uhr