Blaulicht im Zwielicht - Abkassieren bei Notfallopfern

von Bericht: Ilka Brecht

Bürokraten - wir, die Deutschen, gelten als das Volk der Bürokraten, der Paragraphen-Huber, der Bedenkenträger, der Erlaubnisschein-Erwerber, brav an Vorschriften glaubend und sich auch gnadenlos daran haltend. Bürokraten - ein Thema, das Panorama immer wieder beschäftigte. Bürokraten und ihre Welt.

Blaulicht im Zwielicht - Abkassieren bei Notfallopfern
Am Beispiel von Betroffenen berichtet Panorama 2001 über Leerfahrten von Rettungswagen, die Patienten zahlen müssen.

Sie tun so, als sei alles gut. Familie Schilling spielt Mau-Mau, Vater Frank und Tochter Monique, Mutter Bärbel und Sohn Christoph. Einer fehlt: das schwerbehinderte dritte Kind, Tobias. Er fehlt seit dem 24. Januar. Es war ein schrecklicher Tag. Tobias bekam plötzlich einen lebensbedrohlichen Krampf.

Die Mutter, Bärbel Schilling, erinnert sich: "Wie der Rettungswagen dann kam, ja, da muss ich ganz ehrlich sagen, bin ich da nicht mehr weiter dabei geblieben, weil mir das - das wurde mir einfach zu viel. Und der Notarzt hat uns dann nachher auch gar nicht mehr da zugelassen. Die haben die Tür zugemacht und dann ihre Arbeit getan, soweit sie es eben konnten."

Vergebens, Tobias starb. Er wurde nur zehn Jahre alt. Weil er tot war, fuhr der Rettungswagen leer zurück. Für diese sogenannte "Leerfahrt" schickte die Kommune eine Rechnung und empfahl, die an die Krankenkasse weiterzuleiten. Die reagierte prompt.

Bärbel Schilling über die Antwort der Krankenkasse: "Wir kriegten dann ein Schreiben zurück, dass sie das nicht bezahlen, dass wir es selbst bezahlen müssen."

Begründung: "Dass es seit dem 1.1.2001 irgendwie ein Gesetz geben würde, dass die dazu nicht verpflichtet wären, diese Leerfahrten - wie es so schön heißt - zu bezahlen."

Wenn ein Notfallopfer stirbt oder wenn der Patient nur ambulant behandelt werden muss - immer, wenn der Rettungswagen leer von der Einsatzstelle wegfährt, dann nennt sich das im Bürokratendeutsch Leer- oder Fehlfahrt, bundesweit. Dass aber Patienten oder sogar Hinterbliebene dafür zahlen müssen, das gibt es nur in Schleswig-Holstein. Die Wut ist groß. Jetzt spielen Kassen, Kommunen und Land das Schwarze-Peter-Verschiebe-Spiel.

Rudolf Fracklam vom Verband der Ersatzkassen: "Die Kommunen versuchen, uns den schwarzen Peter zuzuschieben."

Jan-Christian Erps, Geschäftsführer, Schleswig-Holsteinischer Landkreistag: "Die Kassen versuchen, politisch dafür Sorge zu tragen, den Kommunen den schwarzen Peter zuzuschieben."

Die schleswig-holsteinische Sozialministerin, Heide Moser, erklärt: "Es gibt eigentlich keinen schwarzen Peter, sondern es gibt die Notwendigkeit für alle Beteiligten, sich auf eine vernünftige Lösung zu einigen."

Aber für eine "vernünftige Lösung" will keiner die Kosten tragen, auch das Land nicht. Einig ist man sich nur darüber: Der jeweils andere soll zahlen.

Erps: "Wir sind dezidiert der Auffassung, dass die Krankenkassen in Schleswig-Holstein, so wie Ihre Kollegen es in anderen Bundesländern praktizieren, diese Fehlfahrten im vollen Umfang zu erstatten haben."

Fracklam: "Es geht darum, dass die Kosten anders aufgeteilt werden, dass die Kosten nicht nur von den Benutzern, sprich: im Regelfall von der Kasse bezahlt werden, sondern dass sich auch die Kommunen und das Land an den Kosten des Rettungsdienstes beteiligen."

Heide Moser: "Grundsätzlich sind die Kassen diejenigen, die zahlen müssen, meines Erachtens auch für sogenannte Fehlfahrten, wo dann keine Behandlung erfolgt, aus welchem Grund auch immer."

Keiner will zahlen, und alle haben irgendwie Recht. Denn jeder beruft sich auf ein anderes Gesetz oder Gerichtsurteil, das ihn entlastet. Nur der Patient geht im Paragraphendschungel drauf.

Auch Joachim Steffen versteht die Welt nicht mehr. Ausgerechnet Heiligabend starb seine 87-jährige Mutter an Herzversagen. Die herbeigerufenen Retter konnten sie nicht wiederbeleben. Nun muss er zahlen: 592 Mark und 37 Pfennige.

Joachim Steffen ist sauer: "Also so sich hinzustellen, also, das ist eine Eiskälte in der Gesellschaft. Ich sag': Wir leben in einer Abzockergesellschaft. Und dann reden die von gutes Deutschland oder was weiß ich, man muss stolz auf Deutschland sein. Nein, darauf bin ich wirklich nicht stolz."

Der Rentner will die Rechnung nicht bezahlen. Auch Frank Schilling, der Vater des kleinen Tobias weigert sich. Das Schicksal seines behinderten Jungen empfindet er als ungerecht, die Rechnung für den Rettungseinsatz als zynisch: "Wir haben also schon zehn Jahre lang für Tobias kämpfen müssen, und wir werden diesen Kampf jetzt auch bis zum Ende weiterführen. Die können sogar einen Gerichtsvollzieher schicken, der wird bei uns auch nichts finden, das er fänden kann. Deswegen also - wir zahlen sie nicht."

Daraus lernen wir: In akuter Not also erst mal sehr reiflich nachdenken, ob man denn wirklich einen Rettungswagen braucht - zumindest, wenn man in Schleswig-Holstein lebt.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 28.06.2001 | 21:00 Uhr