Bildungskatastrophe - Dramatischer Akademikermangel in Deutschland

von Bericht: Christiane Habenicht, Volker Steinhoff

Deutschland gehen die Akademiker aus. Die so gern erzählte Geschichte vom taxifahrenden "Doktor Arbeitslos" gehört - wenn sie denn überhaupt je stimmte - der Vergangenheit an. Zwar macht heute bereits jeder dritte Schüler Abitur - ein Erfolg der Bildungsreform, gleiche Chancen für alle. Aber immer weniger wollen studieren. Und deutsche Unternehmen suchen verzweifelt nach Fachkräften mit Hochschulabschluss. Die Greencard-Inder waren da nur der Anfang. Aber was schreckt unsere Abiturienten eigentlich ab?

Bildungskatastrophe - Akademikermangel in Deutschland
Einer OECD-Studie zufolge hat Deutschland 2001 sehr wenige Studienanfänger und viele Studienabbrecher.

Eine Jobmesse an der Technischen Universität Harburg. Heute ist der Philips-Konzern zum Vorstellungsgespräch gekommen. Er wirbt um Studenten. Dringend gesucht werden nicht nur Elektroingenieure.

Sigmar Gleiser von der Zentralstelle für Arbeitsvermittlung: "Jetzt fehlen vor allem Informatiker, es fehlen auch einige Naturwissenschaftler. Was mich immer wieder wundert, es fehlen auch Wirtschaftswissenschaftler."

Und damit nicht genug: Begehrt sind alle Akademiker, selbst Geisteswissenschaftler. Dabei sprachen Politiker jahrelang von einer "Akademikerschwemme". Heute kann die Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn das Wort nicht mehr hören: ""Und das ist eine völlig veraltete Ansicht. Wir haben nicht zu viele Akademiker, wir haben deutlich zu wenig, auch im Vergleich zu anderen Industriestaaten."

In der Tat: Fast alle westlichen Industriestaaten haben mehr Studienanfänger als Deutschland. Während etwa in den Niederlanden 52 Prozent eines Jahrgangs ein Studium beginnen, in Großbritannien 48 und in den USA 44 Prozent, sind es in Deutschland gerade mal 28 Prozent. Nur Mexiko, die Türkei und die Tschechische Republik sind noch erfolgloser. Deutschland liegt deutlich unter dem OECD-Schnitt von 40 Prozent.

Die OECD in Paris, eine Organisation der westlichen Industriestaaten. Hier werden die Daten aus der ganzen Welt gesammelt, auch aus Deutschland, dem bildungspolitischen Entwicklungsland.

Andreas Schleicher, OECD: "In Deutschland hängt man ja oft noch dem Universitätsmodell des 19. Jahrhunderts nach, wo es um die Ausbildung einer kleinen akademischen Elite ging. Ich denke, die Länder, die mit dem Ausbau und Umbau des Hochschulsystems besonders erfolgreich waren, die haben eine differenzierte Qualifikationsstruktur eingeführt, wo der Student im Mittelpunkt steht und entscheiden kann, was, wann und wie er lernen will."

Dabei gibt es heute viele Gymnasiasten in Deutschland, die das Abitur abschließen, also die Hochschulreife erwerben. Studieren wollen viele dennoch nicht:

"Das ist mir zu fade wieder, ich möchte irgendwas tun, ich möchte aktiv sein.",

"Ich sehe nicht mehr unbedingt die Notwendigkeit eines Studiums.",

"Das wäre mir zu viel Zeit. Da müsste ich erst vier Jahre studieren und dann noch mal zwei Jahre die Ausbildung machen. Das wären dann sechs Jahre, und das wäre mir dann zu lange." - so die Argumente von Schülern.

Das Image der Universitäten ist mies. Die professoralen Vertreter der deutschen Hochschulen scheint das nicht zu stören.

Prof. Hartmut Schiedermair vom Deutscher Hochschulverband: "Ich muss Ihnen ehrlich sagen, unter den gegebenen Verhältnissen kann ich das noch nicht mal bedauern, dass die Universität in der Tat nicht mehr so attraktiv ist, dass andere Berufsausbildungen und Berufsgänge attraktiv sind, auch außerhalb der Universität. Ich würde das wegen der Entlastung der Universität nur begrüßen. Wir haben genügend Studierende, viel zu viel."

Verkehrte Welt. Auch für den Vorsitzenden der Hochschulrektorenkonferenz Prof. Klaus Landfried ist nicht der Studentenmangel das Hauptproblem, sondern die Finanzen: "Das deutsche System ist unterfinanziert, und das deutsche System kann unter den Bedingungen, unter denen es arbeitet, auch nicht mehr Leute aufnehmen."

"Wenn Sie die lange Studiendauer mit einbeziehen, wird das deutsche Studium zu einem der teuersten der Welt.", erläutert Andreas Schleicher vom OECD.

"Das ist, mit Verlaub gesagt, wieder eine der Milchmänner-Rechnungen aus Paris.", meint Prof. Klaus Landfried.

Immerhin haben die "Milchmänner" von der OECD in Paris überraschende Zahlen ermittelt: 125.000 Mark pro Student und Studium. Damit liegt Deutschland bei den Ausgaben ganz vorne. In den Niederlanden etwa sind es bloß 80.000 Mark, in Frankreich 76.000 und in Mexiko nur 32.000 Mark. Der Hauptgrund: In diesen Ländern wird kürzer studiert, also kostet das Studium auch weniger. Der OECD-Schnitt: 67.000 Mark, gerade mal die Hälfte der deutschen Ausgaben.

Von dem vielen Geld sieht man an den deutschen Universitäten wenig. Bekannt ist allerdings, dass manche Professoren Spitzengehälter kassieren und dabei nicht unbedingt service-orientiert sind. Eine Sprechstunde pro Woche muss genügen, wenn überhaupt. Und so bleiben nicht nur viele Abiturienten fern, auch wer sich einmal zum Studieren durchgerungen hat, bleibt nicht unbedingt gern dabei.

Eine Studentin: "Es ist sehr chaotisch, es ist sehr schwierig, jemanden zu finden, wo man wirklich das Gefühl hat, der kümmert sich um einen oder da ist man an der richtigen Adresse."

Und ein Student hat ähnliche Erfahrungen gemacht: "Wir sollen eigentlich in nächster Zeit irgendwann Examensklausuren schreiben, und es ist bis jetzt nicht möglich gewesen, uns Termine dafür in Aussicht zu stellen. Das verschiebt sich also seit Wochen."

Und viele hören ganz auf, weil man auch andere Jobs finden kann, in denen man genauso gut viel Geld verdienen kann, ohne dass man sich ewig abquält.

Über 40 Prozent brechen insgesamt ab, hat Bildungsforscher Klaus Klemm herausgefunden. Er hält nichts vom Verharmlosen: "Ganz erheblich müssen sich auch die Lehrenden für dieses Scheitern mit verantwortlich fühlen. Wir in den Hochschulen haben nicht entwickelt eine Betreuungskultur, wir kümmern uns nicht um Studenten, die wegbleiben, die nicht mehr kommen, die kein Examen machen, die durchfallen - das sind im Zweifelsfalle Belastungsfälle weniger."

Professorale Selbstkritik - eher eine Ausnahme. Die Hochschullobby sucht die Schuld lieber bei anderen. So Prof. Hartmut Schiedermair vom Deutscher Hochschulverband: "Die Frage der Studienabbrecher - die Zahl ist hoch - signalisiert doch, dass hier oft falsche Wege eingeschlagen worden sind von jungen Leuten, und das ist nicht nur für die Veranstaltungen der Universität ärgerlich. Es geht um Lebensschicksale. Nur warne ich - und habe auch immer öffentlich gewarnt - vor der Philosophie: Nur ja keine Abbrecher. Wir könnten dem Druck nachgeben, und da lassen wir jeden durchs Examen. Welche gesellschaftlichen Folgen das hat, mag sich jeder ausmalen."

Prof. Klaus Klemm: "Ich wüsste zu viele Stellen zu benennen, wo die Hochschulen ihren Job besser machen könnten, und solange ich solche Stellen weiß, bin ich nicht bereit zu akzeptieren, dass die Universitäten, meine Institution, nicht schuld sei, und ich rede ja von mir selbst dabei. Wir haben keine anständige Ausbildung der Wissenschaftler in der Art, wie gelehrt werden muss. Ein Hochschullehrer lernt nicht zu lehren."

Das Ergebnis: Während etwa in Großbritannien 35 Prozent eines Altersjahrgangs Examen machen, in den Niederlanden 34 und in den USA 33 Prozent, sind es in Deutschland weniger als die Hälfte: ganze 16 Prozent, nur Mexiko dahinter. Damit liegt Deutschland auch hier deutlich unter dem OECD-Schnitt von 24 Prozent.

Panorama: "Haben Sie sich diese OECD-Zahlen schon mal angeguckt?"
Prof. Hartmut Schniedermair: "Es gab eine OECD-Studie vor einem Jahr ungefähr, ich weiß jetzt nicht welche, es gibt natürlich mehrere."
Panorama: "Dieser jährliche Bildungsreport."
Prof. Hartmut Schniedermair: "2000, den kenne ich noch nicht."
Panorama: "Haben Sie sich in Ihrem Verband schon mal mit diesen OECD-Zahlen befasst?"
Prof. Hartmut Schniedermair: "Nicht unbedingt, weil unser allgemeiner bildungspolitischer Auftrag nur ein begrenzter ist."
Panorama: "Meinen Sie man muss diese OECD-Zahlen ernst nehmen?"
Prof. Hartmut Schniedermair: "Das wäre eine sehr dramatische und erschreckende Zahl, wenn es wirklich für den beruflichen Erfolg auf die akademische Ausbildung ankäme."

Natürlich bedeutet eine akademische Ausbildung beruflichen Erfolg. Und selbst wer die internationalen Zahlen nicht ernst nehmen will, stellt in Deutschland selbst eine erschreckende Entwicklung fest.

Vor knapp dreißig Jahren machten nur 14 Prozent eines Altersjahrgangs das Abitur, doch fast alle gingen dann an die Uni uns schafften im Schnitt acht Jahre später das Examen. 1982 hatte Deutschland schon fast doppelt so viele Abiturienten, doch beim Examen Fehlanzeige: immer noch bloß 13 Prozent. Und 1990 machte sogar mehr als jeder Dritte das Abitur - trotzdem kaum mehr Studienabschlüsse: ganze 16 Prozent mit Examen, der Zuwachs in dreißig Jahren also fast bei Null. Für manche immer noch kein Problem.

Prof. Klaus Landfried: "Ich glaube, dass die Fixierung auf die Akademisierung der Fehler ist in der Betrachtungsweise. Die Frage, ob eine Bevölkerung qualifiziert ist, ist nicht an der Zahl der Berechtigungsscheine aus dem Bildungswesen abzulesen."

Eine gefährliche Fehleinschätzung, meint der Experte Sigmar Gleiser vom Arbeitsamt: "Wenn wir nicht genügend fachlich gut, sehr gut qualifiziertes Personal haben, dann werden wir im Wettbewerb untergehen."

Davon will die Professorenlobby nichts hören, das deutsche Studium sei einfach besser als woanders. Prof. Klaus Landfried: "Wir liegen damit international - ich wiederhole das noch mal - im Vergleich zu anderen OECD-Staaten im oberen Drittel. Und wenn man sich dann anguckt, was wir noch haben, liegt Deutschland hervorragend."

Sigmar Gleiser dazu: "Überhaupt sollte man mit solchen Behauptungen doch vorsichtig sein, also dass das deutsche Studium insgesamt besser sei als das anderer OECD-Staaten. Dafür fehlen uns einfach die Daten. Und schauen Sie mal nach in den deutschen Chefetagen, wo die Leute ihren Abschluss gemacht haben, oder wieviel Nobelpreisträger aus den USA kommen."

Der Mangel, nicht nur bei den Lehrern, war lange absehbar. Doch Politiker und Wirtschaftsbosse taten nichts. Und viele Professoren haben auch heute noch nichts verstanden.

Prof. Klaus Landfried: "Sollte jemand meinen, man müsse jedem, der kommt, nur weil er halt ein Abitur hat, auch ein Examen mitgeben, das wäre eine Katastrophe, für alle." - Das will ja auch niemand. Aber vielleicht ist die eigentliche Katatrophe ja mal wieder der Muff unter den Talaren.

Literaturtipp:

Hörner, W.: Studienerfolgs- und Studienabbruchquoten im internationalen Vergleich

In: Schröder-Gronostay, M./Daniel, H.D., Studienerfolg und Studienabbruch, Neuwied 1999, S. 67 - 82.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 29.03.2001 | 21:00 Uhr