Deutscher Herbst - Leben zwischen Hassparolen, Brandsätzen und Appellen

von Bericht: Nicola von Hollander, Annette Krüger-Spitta, Anja Reschke

Yvonne Hoffmann ist Deutsche, eine Deutsche jüdischen Glaubens. Sie wagt kaum noch allein im Park spazieren zu gehen - wegen ihrer Hautfarbe, nicht weil sie Jüdin ist:

Deutscher Herbst: Leben zwischen Hassparolen und Appellen
Yvonne Hoffmann wagt im Jahr 2000 kaum im Park spazieren zu gehen - wegen ihrer Hautfarbe, nicht weil sie Jüdin ist.

"Jetzt geht es zu weit, jetzt sind sie schon überall, wo ich mich nicht mehr frei bewegen kann. Am Grunewalder See waren sie mit den Hunden, und sie versuchten, sie auf mich zu hetzen. Und jetzt sogar hier. Und das Gefühl, ich geh' raus, ich muss meinen Mann sagen: Hast du Zeit, mit mir spazieren zu gehen. Wo leben wir überhaupt. Ich bin sogar nicht auf diese Jugendlichen böse. Ich kann nicht sagen, das war antisemitisch, nur weil ich Jüdin bin. Ich sehe nicht jüdisch aus, ich bin eben Ausländerin für sie. Ich lebe seit so vielen Jahren in Deutschland, meine Kinder sind hier groß geworden, mein Sohn war hier im Militär - und plötzlich das Gefühl, jemand drängt mich, zu sagen: Ihr gehört nicht dazu."

Yvonne Hoffmann - einen Angriff auf sie als Fremde würde wohl wenig Aufmerksamkeit erregen, als jüdisches Opfer würde sie Schlagzeilen machen, meint der Filmemacher Richard Chaim Schneider. Den jüdischen Deutschen empört, wie ungleich deutsche Politiker mit Anschlägen auf Minderheiten umgehen. Krampfhaft mühten sie sich, das Ansehen Deutschlands zu wahren, kümmerten sich sofort um geschändete jüdische Einrichtungen. Richtig aber ungleich:

"Die Juden werden hier gerne sonderbehandelt, als ganz besonders "wichtig", als Fremde erster Klasse, weil man der Meinung ist, dass im Ausland Angriffe gegen in Juden in Deutschland sehr viel genauer registriert werden als gegen irgendwelche anderen Minoritäten, gegen irgendwelche anderen sogenannten Randgruppen."

Sonderbehandlung von Juden, aus Verbitterung der Begriff aus der Nazizeit. Sicher, die Mitglieder der jüdischen Gemeinden waren froh, dass Bundeskanzler Schröder nach dem Anschlag auf die Düsseldorfer Synagoge zum Tatort eilte. In Dessau hingegen ließ er sich mit seiner Geste viel mehr Zeit. Dort wurde der Schwarzafrikaner Alberto Adriano im Juni dieses Jahres von Neonazis erschlagen. Schröder kam zwei Monate nach der Tat.

"Wenn man sich die Realität heute anschaut", sagt Schneider, "so ist es ganz klar, dass andere Minoritäten, Schwarzafrikaner, Asylbewerber etc., Obdachlose, sehr viel mehr gefährdet sind als Juden im Augenblick. Und als beispielsweise der Schwarzafrikaner in Dessau ermordet wurde, da ging kein Mensch dahin. Und erst nachdem das in dieser Sommerpause überhand nahm mit den rechtsextremistischen Anfällen - respektive das hat nicht überhand genommen, sondern man ist sich dessen nur mal bewusst geworden, weil es kein anderes Thema gab im Vordergrund - da konnte Bundeskanzler Schröder nicht mehr anders, als dahin zu gehen und endlich mal einen Kranz dort abzulegen. Das war viel zu spät."

Auch in Guben - bedauert Schneider - kein Kanzler in Sicht. Ein Algerier wurde von rechtsextremen Jugendlichen in Tod gehetzt.

"Ich erwarte von dieser Gesellschaft, dass sie nicht wieder tatenlos zuschaut, bis es zu spät ist. Und eigentlich ist es schon zu spät. Wir hatten Hunderte von ermordeten Menschen in diesem Land in den vergangenen zehn Jahren, wir haben Tausende von Verletzten, Verprügelten. Was muss denn eigentlich noch geschehen, bis dieses Land wirklich aufwacht, bis auch die Politik endlich aufwacht und nicht immer nur redet, redet, redet."

Nach dem Anschlag auf die Berliner Synagoge letzte Woche beließen es Politiker nicht beim Reden. Sie besuchten einen jüdischen Gottesdienst. Mit der Kippa vor die Kamera. Einige Juden finden solche Solidaritätsbekundungen heuchlerisch.

"Ich möchte das gesamte Parlament auch auf der Straße sehen, wenn ein Schwarzafrikaner getötet wird, wenn ein Obdachloser getötet wird, wenn ein Homosexueller angegriffen wird - das möchte ich hier erleben. Ich fürchte, ich werde es nicht erleben", kommentiert Schneider.

Den Rechtsanwalt Michael Fürst haben die Erfahrungen mit fehlender Zivilcourage in Deutschland bitter gemacht. Seit zwanzig Jahren leitet er den orthodoxen jüdischen Landesverband in Niedersachsen:

"Die Deutschen haben niemals Zivilcourage aufgewiesen. Nur - dies ist kein Vorwurf, den ich so im Angesicht des Dritten Reiches machen würde, sondern dies ist eine Feststellung: Deutsche haben wenig Zivilcourage."

Die Bilder einer Überwachungskamera vor der Düsseldorfer Synagoge zeigen Zivilcourage. Eine Nachbarin, links im Bild, löscht das Feuer nach dem Brandanschlag. Sie hat vorbildlich gehandelt, will aber anonym bleiben - keine Interviews, kein öffentliches Aufsehen, alles aus Angst vor rechtsradikalen Übergriffen.

"Ich finde es höchst problematisch, dass diese Frau nicht mehr wagt, ihren Namen zu nennen", sagt Fürst, "weil sie Angst vor Rechtsradikalen hat. Dies ist das Deprimierende an dieser Angelegenheit. An sich müsste man die Frau ehren und loben, der Ministerpräsident müsste sie einladen, dass sie Zivilcourage zeigt, und sie weigert sich, ihren Namen zu nennen, weil sie Angst vor Rechtsradikalen hat."

Und wenn es schon so weit gekommen ist, dass die Couragierten sich verstecken - wie sollen sich erst die Menschen in Asylbewerberheimen ihrer Haut sicher sein. Da hilft auch kein Aufruf des Bundeskanzlers zum "Aufstand der Anständigen". Die Menschen dort bleiben allein.

Annette Kahane engagiert sich für Asylbewerber. Sie ist Mitglied der jüdischen Gemeinde. Kahane ist sehr bedrückt über die Ungleichbehandlung von Opfern rechter Gewalt:

"So wie man reagiert auf die Anschläge jüdische Einrichtungen, auf Bedrohung von jüdischen Leute, so muss man halt auf alle rassistischen Übergriffe reagieren, so muss man mit allen Minderheiten umgehen, und das allein kann nur die Lehre aus der deutschen Geschichte sein. Man darf einfach nicht zulassen, dass es Menschen unterschiedlicher Wertigkeit gibt. Und das gilt für alle Opfer, die aufgrund ihrer ethnischen oder kulturellen Herkunft angegriffen, beleidigt oder verletzt werden."

Wer im Rampenlicht steht, wird geschützt. Michel Friedman, stellvertretender Vorsitzender des Zentralrates der Juden in Deutschland. Im Hintergrund stets stille Begleiter. Über den Grad der Gefährdung spricht Friedman nicht. Auch im streng bewachten jüdischen Museum in Berlin stehen die Sicherheitskräfte immer um ihn herum. Zusätzlich gibt es Polizeischutz rund um die Uhr, auf Schritt und Tritt. Erzwungene Normalität für prominente Juden in Deutschland.

"Ich würde mir wünschen, frei, entspannt, angst- und sorgenlos in Deutschland spazieren zu können wie meine Kollegen, die die Kirchen repräsentieren", sagt Friedmann. "Es ist ein Genuss, wenn man letztendlich ohne Polizei unterwegs ist, denn so wichtig die Polizei auch ist, sie macht einem bewusst: Es gibt eine Bedrohung."

Höchste Alarmstufe vor Friedmans Fernseh-Talkshow. Jeder Zuschauer wird mit dem Metalldetektor überprüft. "Vorsicht Friedman" heißt die Sendung. Thema heute: Fremdenhass und Antisemitismus. Nach der Sendung ist klar: Alle Opfer brauchen Solidarität:

"In Deutschland scheint es immer noch eine Hierarchie der Opfer zu geben. Ich hätte mir gewünscht, dass der Bundeskanzler, die Ministerpräsidenten und andere Politiker Anwesenheit gezeigt hätten auch, als Asylanten vertrieben, getrieben, teilweise ermordet wurden und andere Ausländer."

Hannover, Montag dieser Woche: Jom Kippur, der höchste jüdische Feiertag. Die liberale jüdische Gemeinde feiert das Versöhnungsfest. 24 Stunden lang haben sie nichts gegessen, sind in sich gegangen. Die Freude über das gelungene Fest überwiegt jede Sorge.

Im Restaurant von Tuvia Aram, einem Gemeindemitglied, lassen sie das Versöhnungsfest mit koscherem Essen ausklingen. Bei den Gesprächen holen sie die Ereignisse der letzten Tage wieder ein.

Ingrid Wettberg von der Liberalen Jüdischen Gemeinde Niedersachsen: "Es ist ja auch leider so, dass in den vergangenen Wochen fast kein Tag vergangen ist, ohne dass man irgendetwas gelesen hat: "Ein jüdischer Friedhof geschändet", oder "Steine in Synagogen geworfen". Im Gegensatz dazu hat mir gerade gestern jemand erzählt, dass auch ein islamischer Friedhof geschändet worden ist, gerade hier in Hannover, und dass da die Zeitung gesagt hat: Nein, nein, das interessiert uns nicht, das bringen wir also nicht."

Nicht alle fühlen sich hier bedroht, aber viele neuerdings fremd.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 12.10.2000 | 21:55 Uhr