Vollgepumpt mit Psychopharmaka - Alte Menschen in Pflegeheimen

von Bericht: Ilka Brecht

Anmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Stellen Sie sich doch bitte einmal folgendes vor: Sie sind gesund, können sehen, hören, schmecken, riechen, haben also alle Sinne beisammen. Sie haben auch Gefühle - so weit alles normal. Aber Ihr Gehirn verläßt Sie, langsam, schleichend. Sie können sich an vieles und an immer mehr nicht erinnern, können nicht mehr zusammenhängend denken. Das schlägt sich auch auf Ihr Verhalten nieder. Sie werden ängstlich, auch aggressiv, weil Sie die Veränderung, die mit Ihnen passiert, durchaus registrieren, sie aber nicht verhindern können. Sie bräuchten jetzt besonders viel Zuwendung und Hilfe. Statt dessen dämmern Sie in einem Altersheim vor sich hin, weil man Sie mit Psychopharmaka vollgepumpt, ruhiggestellt hat. Ich rede über Demenz und den Umgang mit dieser Gedächtnis- und Denkstörung. Sie ist eine der häufigsten und schwerwiegendsten Krankheiten im Alter. In Deutschland leiden rund eine Million Menschen darunter.

Vollgepumpt mit Psychopharmaka: Alte Menschen in Pflegeheimen
Nach einer Untersuchung der Universitätsklinik Hannover erhalten alte Menschen in Pflegeheimen zu häufig Psychopharmaka.

Ilka Brecht berichtet über einen Alptraum, genauer: über Realität in unseren Alters- und Pflegeheimen.

KOMMENTAR:

Selbst ein Spaziergang mit der Tochter ist ihr schwer geworden. Achtzig Jahre alt, hat viel geschafft in ihrem Leben, aus eigener Kraft. Aber jetzt braucht die alte Frau immer eine fürsorgliche Hand, die sie leitet, und einen Kopf, der für sie denkt. Helene Berker, seit ihrer Jugend Lenchen genannt, hat vieles vergessen, was früher war. Sie ist verwirrt und orientierungslos geworden. Demenz nennen die Fachleute diese Alterskrankheit. Das Gehirn nimmt Schaden, und der Patient wird psychisch krank.

0-Ton

FRAGE:

"Und hier, wer ist das?"

FRAU:

"Ich weiß es nicht."

KOMMENTAR:

Ihre Gefühle werden ihr bleiben, aber das Denken und ihr Gedächtnis gehen verloren. Aber daß die alte Frau überhaupt hier im Krankenhausgarten von Hamburg-Ochsenzoll sitzen kann und redet, das ist schon fast ein großes Glück. Denn vorher war sie in einem Pflegeheim, voll mit Psychopharmaka dämmerte sie nur so vor sich hin, erzählt die Tochter.

0-Ton

RENATE EBBINGHAUS:

"Also es war ein ganz schlimmer Moment, als ich eines Tages ins Heim kam und auch gar nichts ahnte irgendwie, ich wollte mit meiner Mutter spazieren gehen, wie immer. Und sie saß plötzlich im Rollstuhl und war ganz apathisch und nahm mich kaum noch wahr. Und da kamen mir schon die Tränen, weil ich irgendwie damit nicht gerechnet hatte, daß ich sie eines Tages so vorfinden würde."

KOMMENTAR:

Heute weiß die Tochter: Das alles lag an den Psychopharmaka, genauer: den Neuroleptika, die ihre Mutter im Pflegeheim bekam. Diese starken Beruhigungsmittel, die Unruhe, aber auch alle anderen Gefühle dämpfen, hat man jetzt bei ihr gestrichen.

0-Ton

DR. CLAUS WÄCHTLER:

(Gerontopsychiatrie Klinikum Nord)

"Wir haben die Medikamente völlig umgestellt. Wir haben das Neuroleptikum, das sie bekam, auf Null gesetzt, weil wir den Eindruck hatten, daß sie das nicht brauchte und auch nicht gut vertrug. Und wir haben andere Medikamente angesetzt, und wir haben den Eindruck, daß ihr das jetzt gut bekommt."

KOMMENTAR:

Wie leichtfertig in den Pflegeheimen Neuroleptika verabreicht werden, das hat man hier auf der alterspsychiatrischen Station der Klinik Hannover festgestellt. Die Ärzte wollten wissen, was aus den Menschen wird, wenn sie aus dem Krankenhaus in die Pflegeheime entlassen werden.

0-Ton

DR. CLAUDIA WILHELM-GÖSSLING:

(Uniklinik Hannover)j

"Die Studie hat gezeigt, daß die nachuntersuchten Menschen in den Heimen also deutlich häufiger Psychopharmaka erhielten, als wir empfohlen hatten. Hervorzuheben sind da die besonders problematischen Neuroleptika. Da war es so, daß wir in 20 Prozent solche Medikamente empfohlen haben, und in den Heimen waren es 66 Prozent, die diese Medikamente erhielten. Und hinsichtlich der Dosierung war es so, daß sie fünf- bis sechsfach höher lagen, als von uns empfohlen."

KOMMENTAR:

Petra Fisch war Pflegerin in verschiedenen Altenheimen. Ihre Erfahrungen haben sie frustriert. Sie hat deshalb ihren eigenen ambulanten Pflegedienst gegründet. Wie man als Pflegekraft mit den alten Menschen umgeht, wenn nur zwei in einer Schicht für dreißig Patienten sorgen müssen, erinnert sie noch sehr genau.

0-Ton

PETRA FISCH:

(ehemalige Heimpflegerin)

"Ich binde sie fest an dem Rollstuhl, am Bett, ich gebe ein Nachtjäckchen an, die man auch ans Bett binden kann. Ich gebe Medikamente, damit sie ruhig sind, damit sie wenig Arbeit machen. Also schwierige Demenz-Erkrankte werden vom Personal praktisch chemisch oder räumlich, körperlich fixiert. Anders packen die das nicht. Ich persönlich, für mich war das eine Katastrophe."

KOMMENTAR:

Der Alltag: Überforderte Pfleger, aber auch unwissende Ärzte, die fahrlässig handeln. Oft kommt der Hausarzt nur kurz im Altenheim vorbei, zur Stippvisite. Eine gründliche Diagnose gibt es nicht. Die Ärzte verschreiben nach Bedarf - eine Art Persilschein, denn dann können die Pflegekräfte so viel geben, wie sie wollen. Dabei kann eine Überdosierung tödlich sein.

0-Ton

DR. CLAUDIA WILHELM-GÖSSLING:

(Uniklinik Hannover)

"Ein weiteres erschreckendes Ergebnis der Untersuchung war eine deutliche Häufung der Todesfälle im Falle von hoher Psychopharmaka-Dosierung. Nun kann man das streng wissenschaftlich gesehen natürlich nicht beweisen, daß die Todesrate mit als Ursache diese Neuroleptika hat, aber unsere Untersuchung legt schon nahe, daß das eben an einer Überdosierung gelegen haben müßte. Es ist ja so, daß Neuroleptika im Falle von älteren verwirrten Menschen sehr viele Komplikationen aufweisen."

KOMMENTAR:

Er ist ein solches Opfer, so der Verdacht. Aus der Klinik entlassen mit einer guten Prognose. Ein halbes Jahr später war er tot. Im Pflegeheim hatte man ihm ein besonders starkes Neuroleptikum gegeben: 15 mg Haldol.

0-Ton

DR. CLAUDIA WILHELM-GÖSSLING:

"Das ist eine erschreckend hohe Dosis, und zwar ist das die 15fache Menge dessen, was wir in unserer Untersuchung als kritische Menge herausgefunden haben. Und im Verlauf war es dann so, daß sich sein Zustand verschlechterte, er stürzte häufiger und verstarb dann an einer Lungenentzündung. Und wir wissen, daß sowohl Lungenentzündungen als auch Stürze eben auf Überdosierung von Neuroleptika zurückzuführen sind."

KOMMENTAR:

Psyschopharmaka-Überdosis, möglicherweise mit Todesfolge. Aber nicht zu beweisen, im Nachhinein - und im Regelfall guckt schon vorher keiner genau hin. Dabei ist ein solcher Tod nicht selten.

0-Ton

DR. CLAUDIA WILHELM-GÖSSLING:

"Also unsere Daten zeigen, daß es sich sowohl bei der Häufigkeit der Psychopharmaka-Verordnungen als auch bei der Häufung der Todesfälle eben nicht um Einzelschicksale handelt. Außerdem konnten wir zeigen, daß besonders in großen, anonymeren Einrichtungen besonders häufig und auf Dauer Neuroleptika verordnet wurden. Halfen diese Medikamente dann nicht, wurde die Dosis sogar eher hochgesetzt, was fatale Folgen hatte."

KOMMENTAR:

Ein Problem fast überall: Zu wenig Personal und zu wenig Wissen. Dabei geht es auch anders, im "Haus Schwansen" bei Eckernförde zum Beispiel. Auch mit Medikamenten, aber vor allem mit Zuwendung versuchen die Pfleger hier, den alten Menschen zu helfen. Alfred Borgers zeigt Gegenstände aus alten Zeiten im Erinnerungskreis. Alle hier hätten in einem normalen Pflegeheim wohl keine Persönlichkeit mehr, keine Geschichte. Doch hier findet eine alte Dame schon mal für kurze Zeit ihren Namen wieder - Frau Ursula Gennsichen, früher Leiterin von zwei Waisenheimen. Die anderen freuen sich mit.

0-Ton

ALFRED BORGERS:

"Frau Ursula Gennsichen. Das sind Sie."

URSULA GENNSICHEN:

"Das sollen die anderen auch wissen."

KOMMENTAR:

Der eigene Name und manchmal sogar eine eigene Erinnerung. Ingeborg Sommer, einst erfolgreiche Geschäftsfrau. Noch mit siebzig Jahren ging sie täglich ins Büro.

ALFRED BORGERS:

"Frau Sommer, schauen Sie mal hier."

INGEBORG SOMMER:

"Oh, das ist ja großartig, das ist großartig."

ALFRED BORGERS:

"Das ist großartig."

INGEBORG SOMMER:

"Das ist die ‚Viking‘."

ALFRED BORGERS:

"Das ist die ‚Viking‘, das ist Ihr Segelschiff, mit dem Captain, mit Ihrem Captain, die ‚Viking‘."

INGEBORG SOMMER:

"Das ist die ‚Viking‘."

ALFRED BORGERS:

"Jawohl, genau."

INGEBORG SOMMER:

"Das Großsegel, großartig."

KOMMENTAR:

Für all dies, Zuwendung und Therapie, gibt es von der Pflegeversicherung keinen Pfennig, sie zahlt nur die körperlichen Belange, also Waschen und Essen zum Beispiel.

0-Ton

MECHTHILD LÄRM:

(Heimleiterin "Haus Schwansen")

"Wir haben die gleichen Probleme wie alle anderen Heime auch. Wir brauchen, um das alles vorzuhalten und Rahmenbedingungen zu schaffen, die für diese Menschen, die hier leben und in ihren Verhaltensweisen sehr schwierig sind, also um das eben alles regeln zu können, brauchen wir sehr viel Personal. Und die Pflegekassen sagen uns in den Verhandlungen um unseren Pflegesatz, daß wir zu viel Personal beschäftigen. Und das ist unser Problem."

KOMMENTAR:

Dabei steht schon im Koalitionsvertrag der Bundesregierung: Es ist zu prüfen, wie die Situation der Demenz-Kranken verbessert werden kann. Doch im Bundesgesundheitsministerium wollte man dazu zur Zeit keine Stellung nehmen.

Und kaum einer glaubt daran, daß es besser wird, noch nicht. Vielleicht dann, wenn jedem klar wird, daß es auch ihn treffen kann. Statistisch gesehen wird jeder vierte Deutsche in dem Alter so krank wie Helene Berker, genannt Lenchen.

Abmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Noch mal: Jeden vierten alten Menschen kann es also treffen. Das Recht auf ein menschenwürdiges Leben besteht aber auch dann weiter.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 02.09.1999 | 21:00 Uhr