Bürokratisch und ungerecht - Der Kampf der Opfer von Eschede gegen die Bahn

von Bericht: Thomas Berbner und Edith Heitkämper

Anmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Im Krieg oder bei einem Unglück mit vielen Toten und Verletzten rücken die Menschen zusammen. Gemeinsames Leid bringt uns näher. Vor einem Dreivierteljahr geschah das Zugunglück bei Eschede. Nach diesem Unfall war für viele nichts mehr so, wie es mal war. Die so geordnete Welt hatte sich für viele schlagartig aufgelöst. Und damals wurden Versprechungen gemacht, Versprechungen, die später nicht gehalten werden konnten. Zum Beispiel war da oft von "schneller und unbürokratischer Hilfe" die Rede. Die fiel dann - bei allen Bemühungen - doch eher schleppend, kleinkariert und unsensibel aus. Und das trifft die Opfer solcher Katastrophen und deren Angehörige dann um so härter. Dabei geht es nicht nur um Geld. Über Enttäuschungen nach dem größten deutschen Zugunglück berichten Thomas Berbner und Edith Heitkämper.

Eschede-Opfer kämpfen gegen die Bahn
Neun Monate nach dem Zugunglück in Eschede kämpfen Opfer und Angehörige 1999 um eine angemessene Entschädigung.

KOMMENTAR:

Eschede, 3. Juni 1998. Bei der bisher größten Bahnkatastrophe seit dem Krieg sterben 101 Menschen. Viele wurden schwer verletzt. Den Familien der Toten und den Verletzten verspricht die Bahn noch am Unglückstag unbürokratische Hilfe.

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PETER MÜNCHSCHWANDER: (Deutsche Bahn AG, 3.6.98)

"Wir sind erschüttert, und unseres erstes tiefes Mitgefühl gilt den Angehörigen der Toten und der Verletzten. Es erübrigt sich an sich, darauf hinzuweisen, daß wir natürlich bahnseitig alles tun werden, um unbürokratisch hier Hilfeleistungen zu machen."

KOMMENTAR:

Über Schadensersatz und Schmerzensgeld entscheidet er: Peter Schubert, Leiter der sogenannten Haftpflichtgruppe Eschede der Bahn AG. Auch er kennt die Maxime von der unbürokratischen Hilfe.

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PETER SCHUBERT:

(Leiter Haftpflichtgruppe Eschede)

"Wir haben von vornherein die Parole ausgegeben: Dieser Unfall wird unbürokratisch und schnell und großzügig reguliert."

KOMMENTAR:

Die Praxis: Im ersten Fragebogen verlangt die Bahn AG von den Verletzten und Hinterbliebenen den Fahrschein im Original oder in Kopie. Doch wer dachte im Chaos von Eschede daran, den Originalfahrschein zu sichern, nur weil die Bahn AG die größte Katastrophe ihrer Geschichte mit dem Standardformular abwickelt?

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PETER SCHUBERT:

"Das erste war ein Formular war eins, was auch sonst verwendet wird bei Unfällen. Das hat man in der ersten Zeit rausgeschickt, um möglichst schnell die richtigen Informationen zu bekommen. In irgendeinem Stadium braucht man natürlich schon den Originalfahrschein, jedenfalls dann, wenn er noch vorhanden ist. Wir gucken bei vielem nicht so hin, aber wir wüßten wenigstens wirklich, ob der Betreffende auch im Zug gesessen hat."

KOMMENTAR:

Er hat im Zug gesessen. Peter Kraft erlitt komplizierte Brüche an Armen und Beinen und schwerste innere Verletzungen. Sein linker Arm ist seit Eschede teilweise gelähmt, deswegen kann er sein eigenes Auto noch nicht wieder fahren. Doch die Bahn zögert, ihm bis zu seiner Genesung ein Automatikfahrzeug zur Verfügung zu stellen. Lieber zahlt sie monatliche Taxikosten von 2.000 Mark. Für das Auto fordert die Bahn AG ein weiteres Gutachten. Die Wartezeit ist für Peter Kraft eine große Belastung.

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PETER KRAFT:

(Eschede-Opfer)

"Wenn die Psyche sowieso wirklich angeschlagen ist und wenn man dann noch ständig auf andere angewiesen ist, und dann die Entscheidung über vier Monate hinzuziehen, wobei wirklich ein Gutachten schon vorliegt, nur weil man jetzt noch mal ein aktuelles will, das ist mir komplett unverständlich. Also da hab' ich überhaupt kein Verständnis dafür. Das ist reiner Bürokratismus für mich."

KOMMENTAR:

Der Streit um die vorübergehende Nutzung des Automatikfahrzeuges wird seit Monaten geführt - bisher ohne Ergebnis. Statt dessen ein Brief der Bahn an ihren Bahncardkunden mit einem ganz besonderen Angebot für den Schwerverletzten.

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PETER KRAFT:

"Skifahren mit der Bahncard. Und da ich natürlich extremst verletzt war und immer noch extreme Probleme habe, ist das für mich als leidenschaftlichen Skifahrer natürlich - ja, das war ein richtiger Schlag irgendwo. Also ich bin noch jemand, der das jetzt nicht so versucht, nicht so persönlich zu nehmen. Aber das ist einfach unsensibel."

KOMMENTAR:

Um solche Patzer zu vermeiden, hat die Bahn einen Ombudsmann eingesetzt. Otto-Ernst Krasney organisiert psychologische Betreuung für die Opfer. Seiner Ansicht nach hat die Bahn meist befriedigende Lösungen gefunden. Aber daß sie nach Eschede sogar tote Bahnkunden aufforderte, ihre Bahncard zu verlängern, konnte auch er nicht verhindern.

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OTTO-ERNST KRASNEY:

(Ombudsmann Bahn AG)

"Es gab einen Fall, wo also zum Beispiel sogar noch mal nachgehakt wurde und dann sogar zum Geburtstag gratuliert wurde, weil man zufällig gesehen hatte, daß also die Bahncard im Geburtsmonat abläuft. Das ist natürlich für die Betroffenen furchtbar, das ist etwas, was ich einsehe, selbst wenn - wie gesagt - ich um eine gewisse Entschuldigung bitte, daß wir nicht dran gedacht haben. Es war einfach in der Fülle der Aufgaben, die wir hier am Anfang hatten, haben wir einfach nicht dran gedacht."

KOMMENTAR:

Inzwischen vertreten Rechtsanwälte viele der Opfer. Wie kleinlich die Bahn sein kann, hat dieser Anwalt erfahren. Seine Mandantin verlor in Eschede ihren sechsjährigen Sohn und war selbst verletzt.

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ARNOLD KEHL:

(Rechtsanwalt)

"Die Mutter war nach dem Unfall in ein Celler Krankenhaus eingeliefert worden. Familienmitglieder haben notwendige Waschutensilien gekauft, Seife, Zahnbürste etc., auch Nachtkleidung. Ich habe dann, weil man natürlich in der Situation die entsprechenden Rechnungsbeläge nicht aufgehoben hat, einen Pauschalbetrag von 100 DM geltend gemacht. Die Bahn AG hat den Ausgleich dieser Forderung abgelehnt mit der Begründung: Der Kauf von Artikeln des täglichen Lebens - Hausschuhe, Wäsche, Waschutensilien - fällt nicht unter den Schadenersatz."

KOMMENTAR:

Kein Einzelfall. Peter Schubert bearbeitet viele Fälle, auch diesen: Ein Eschede-Opfer trug ein Goldarmband, das bei dem Unfall zerstört wurde, Wert: 1.800 Mark. Die Bahn wollte nicht bezahlen, die Angehörigen mußten erst den Schmelzwert der verbliebenen Reste schätzen lassen.

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ARNOLD KEHL:

"Diesen Schmelzwert hat der Juwelier dann mit 93,80 Mark angenommen und ein entsprechendes Schriftstück erstellt.

KOMMENTAR:

Die Antwort der Bahn - Zitat: "Im Hinblick auf den Armreif haben wir von der ursprünglichen Forderung in Höhe von 1.800 Mark den Schmelzwert mit 93,80 Mark in Abzug gebracht, so daß soweit 1.706,20 Mark verbleiben. Mit freundlichen Grüßen, Schubert."

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INTERVIEWERIN:

"Aber für die Betroffenen wirkte das doch kleinlich."

PETER SCHUBERT:

(Leiter Haftpflichtgruppe Eschede)

"Ja, das tut mir leid. Wir bemühen uns schon, großzügig zu sein, aber es gibt Grenzen. Und ganz ohne Rechnen geht es bei uns auch nicht."

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ARNOLD KEHL:

(Rechtsanwalt)

"Die Hinterbliebenen haben für diese Vorgehensweise im Rahmen der Regulierung kein Verständnis. Sie müssen sich vorstellen, da verliert die Mutter ihr sechsjähriges Kind, die Ehefrau verliert ihren Ehemann, und dann wird verlangt im Rahmen der Regulierung, jede einzelne Schadenersatzposition auf Heller und Pfennig nachzuweisen, möglichst noch Belege beizufügen. Und es entsteht vor allen Dingen bei den Angehörigen der Eindruck, daß die Deutsche Bahn AG den Verdacht hegt, daß hier noch im Rahmen der Regulierung ein Geschäft gemacht werden soll."

KOMMENTAR:

An ein Geschäft dachte angesichts dieser Katastrophe wohl kaum jemand.

In Eschede suchte Edward König damals seine Mutter. Sie war unter den Toten. Heute ist er einer der Sprecher der Eschede-Selbsthilfegruppe. Vor drei Tagen besuchte er in Frankfurt die Bahn AG, um mit Vorstandschef Ludewig über die Vorwürfe der Eschede-Opfer zu sprechen. Bahnchef Ludewig wollte bei dem Gespräch nicht gedreht werden und lehnte auch ein Interview trotz mehrfacher Anfrage ab.

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EDWARD KÖNIG:

(Selbsthilfegruppe Eschede)

"Im Gespräch mit Herrn Ludewig sagte er mir, daß er die Probleme und Schwierigkeiten der Hinterbliebenen und Betroffenen überhaupt nicht kennen würde. Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Entweder es steckt ein starkes Kalkül dahinter, oder er weiß wirklich nicht, wie es um die Hinterbliebenen und betroffenen Familien bestellt ist, und da muß ich Ihnen sagen, weiß ich gar nicht, welche Alternative die schlimmere ist."

KOMMENTAR:

Petra und Ulrich Präger haben in Eschede ihr einziges Kind verloren. Die Tochter war wegen eines Asthmaleidens unterwegs an die Nordsee. So wie bei ihnen hat das Unglück ganze Familien zerrissen.

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ULRICH PRÄGER:

"Im Prinzip ist unser Leben dahingehend zerstört, daß uns die Zukunft eigentlich genommen ist. Klar, vom Alter her haben wir noch eine gewisse Lebenserwartung vor uns, aber dann ist auch Schluß. Wir haben keine Kinder, für die man noch etwas aufbaut, niemanden, an den noch etwas weiterzugeben wäre. Es ist alles nur noch für den Augenblick und den Moment."

KOMMENTAR:

Im Wohnzimmer haben Prägers einen Gedenktisch an ihre Tochter aufgebaut. 30.000 Mark will die Bahn AG pro Opfer zahlen, deutlich mehr, als nach dem Gesetz vorgesehen. Ulrich Präger und die anderen Hinterbliebenen wissen, daß sich menschliches Leben nicht in Geld aufwiegen läßt. Trotzdem bietet die Bahn ihrer Ansicht nach zu wenig.

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ULRICH PRÄGER:

"Es gibt 101 neue dieser Grabsteine in Deutschland. Verantwortlich ist dafür unserer Auffassung nach auf jeden Fall die Deutsche Bahn und der Herr Ludewig als Vorstand dieser Bahn AG. Und wenn ich mir allein vorstelle, was Herr Ludewig bis jetzt so angeboten hat - wenn er seine Kinder hergeben müßte und bekommt dafür das, was er anderen verspricht, dann wollte ich sein Gesicht mal sehen."

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PETER SCHUBERT:

(Leiter Haftpflichtgruppe Eschede)

"Man kann mit Geld sowieso nicht alles gut machen. Man kann ein Unglück nicht ungeschehen machen durch Geldzahlung. Und großzügig wollen wir schon sein, aber soll sich auch niemand bereichern an einem Unfall."

KOMMENTAR:

Neun Monate sind seit der Katastrophe von Eschede vergangen. Aber nicht einmal bei der Bezahlung der Grabpflege gibt es bei der Bahn AG durchgängig die versprochene Großzügigkeit.

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PETER SCHUBERT:

"Nach der Rechtsprechung gehören Grabpflegekosten nicht zu den Kosten, die der Schädiger zu ersetzen hat. Und diesen Grundsatz halten wir auch ein, wir ersetzen Grabpflegekosten nicht. Aber das hat nicht ausgeschlossen, daß wir in Einzelfällen doch mal Kompromisse geschlossen haben, wenn der Anwalt der Geschädigten kompromißbereit war. Da haben wir dann schon Teile gezahlt, das ist schon passiert."

INTERVIEWERIN:

"Aber ist das nicht ungerecht?"

PETER SCHUBERT:

"Ach, was ist Gerechtigkeit bei einem solchen Unfall?"

Abmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Was ist Gerechtigkeit?

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 25.03.1999 | 21:00 Uhr