Böse Überraschung nach Tarifpoker - Kein Geld mehr für Überstunden

Anmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Unsere Bundesregierung ist bekanntlich ja angetreten mit einem guten Vorsatz - Arbeitsplätze schaffen und etwas gegen die Jugendarbeitslosigkeit tun. Daran will sich Bundeskanzler Schröder nach eigenem Bekunden ja messen lassen. Um so mehr erstaunt doch jetzt der Tarifvertrag im Öffentlichen Dienst, bei dem Bundesinnenminister Schily die Arbeitgeberseite vertreten hat. Demnach erhalten Beschäftigte im Öffentlichen Dienst, also auch Krankenschwestern, Müllmänner und Busfahrer, 3,1 Prozent mehr Lohn. Von der Gewerkschaft wird das als Erfolg verkauft. Aber die Euphorie wird bei den vielen Beschäftigten schnell vorbei sein, nämlich dann, wenn alle Einzelheiten dieser Vereinbarung bekannt werden. Denn mehr Geld wird es für viele nicht geben. Und Zusatzvereibarungen, die Jobs und Ausbildungsplätze für Jugendliche schaffen könnten auch nicht. Um Ruhe an der Tariffront zu haben, hat sich die Bundesregierung auf einen zweifelhaften Kompromiß eingelassen.

Böse Überraschung nach Tarifpoker
Ein Bericht von 1999 über den Tarifabschluss für Beschäftigte im öffentlichen Dienst: kein Geld mehr für Überstunden.

KOMMENTAR:

Heinz Braune macht einen Job, um den ihn keiner beneidet. Seit zwölf Jahren arbeitet er bei der Müllabfuhr in Bremen. Jeden Monat bringt er rund 2.500 Mark netto nach Hause. Demnächst bekommt er 3,1 Prozent mehr. Darüber hat er sich gefreut.

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HEINZ BRAUNE:

"Diesmal finde ich das ganz gut. Also 3,1 - ohne viel Theater ohne Streik ist das eigentlich - also von meiner persönlichen Warte ist es eigentlich in Ordnung."

KOMMENTAR:

Ein Abschluß mit der Drei vorm Komma. Die Gewerkschafter zeigten ein zufriedenes Gesicht und ließen sich als Helden feiern. Das Kleingedruckte im Tarifvertrag, das gab man den Angestellten im Öffentlichen Dienst erst Tage nach dem Erfolg zu lesen. Im besten Tarifdeutsch ist dort ein "zuschlagsfreier Arbeitszeitkorridor" geplant. Im Klartext: Kein Geld mehr für Überstunden.

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MÜLLMANN:

"Das sind ja grad' eben die Zuschläge, das ist ja nun hier bei der Müllabfuhr das, was eben das Geld hier bringt. Und wenn das jetzt auch noch wegfallen soll, dann sieht es aber ganz schlecht aus."

INTERVIEWER:

"Wußten Sie das schon, daß das wegfallen soll?"

MÜLLMANN:

"Nee, noch nicht so, jedenfalls noch nicht so in diesem Rahmen."

INTERVIEWER:

"Das steht im Kleingedruckten."

MÜLLMANN:

"Ja, ja, sicher, die schlechten Sachen stehen immer kleingedruckt."

KOMMENTAR:

Sechs Uhr gestern morgen. Im Kieler Busdepot bereitet Ottmar Menzel seine Tour vor. Überstunden gehören für Ottmar Menzel zum Alltag und die Zuschläge zum normalen Gehalt. Rund 2.500 Mark netto bekommt er im Monat und ernährt davon seine Familie. Auch er hatte sich von Rot-Grün mehr versprochen. Aber dann kam erst die magere Steuerreform und die Aufschläge durch die Ökosteuer. Jetzt sollen auch noch die Überstundenzuschläge wegfallen. Die Lohnerhöhung als Nullsummenspiel. Viele Kollegen haben am Ende sogar weniger im Portemonnaie.

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BUSFAHRER:

"Die da oben verdienen sich immer eine goldene Nase, und uns wirft man ein Butterbrot zu. Das ist das, was mich ein bißchen ärgert."

"Ohne Zuschläge hätten wir sicherlich 400 Mark weniger im Monat. Und ich sag' mal, es sind ja auch viele Leute bei uns in der Firma angewiesen, Überstunden zu fahren, da bin ich ganz ehrlich, weil das Gehalt selber, das Grundgehalt bei uns in der Firma ist nicht so doll."

KOMMENTAR:

Gereizte Stimmung an der Basis, trotz der Drei vorm Komma. Der Bremer Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel, sonst eher an der Seite der Gewerkschaften, kritisiert den vermeintlichen Erfolg der ÖTV.

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RUDOLF HICKEL:

(Wirtschaftswissenschaftler)

"Vieles an dem, was an Kürzungen jetzt in den letzten Jahren stattgefunden hat, ist bei diesen Beschäftigten aufgefangen worden durch fest kalkulierbare Zuschläge aus Überstunden. Das fällt weg, und insoweit ist gerade für diejenigen, die unter erschwerten Bedingungen bisher und künftig gearbeitet haben, für die ist dieser Abschluß nicht sozial ausgewogen."

KOMMENTAR:

Der Basis dämmert langsam: Sie haben nichts gewonnen, sie könnten sogar die Verlierer sein. Der Gewerkschaftsboß flüchtet sich in vage Versprechungen.

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HERBERT MAI:

(ÖTV-Vorsitzender)

"Ich bin sicher, daß wir Wege finden werden, sozialverträgliche Lösungen zu finden für die, die viele Überstunden machen und die das zum regulären Einkommen seit Jahren hinzugerechnet haben. Aber langfristig wollen wir den Abbau von Überstunden und wollen, daß Überstunden weitgehend in Freizeit ausgeglichen werden."

KOMMENTAR:

Doch ausgerechnet Sozialverträglichkeit ist in der Tarifvereinbarung nicht festgeschrieben, auch nicht im Kleingedruckten. Und in den Krankenhäusern sieht man eher mehr Überstunden auf sich zukommen. Die Patienten müssen rund um die Uhr versorgt werden. Die Schwestern und Pfleger arbeiten sonn- und feiertags und nachts in Wechselschichten. Für diese harten Bedingungen bekommen sie bislang Zulagen. Die Krankenschwestern Gudrun Forck und Martina Piep stolpern auch hier übers Kleingedruckte in der Tarifvereinbarung. Offenbar - so schwant ihnen, will man an ihre Zulagen ran. Es ist zu prüfen, ob "Regelungen für Wechselschicht- und Schichtdienst" getroffen werden müssen, heißt es da vielsagend.

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KRANKENSCHWESTERN:

"Also ich interpretiere daraus, wenn es zu prüfen ist, ob Regierungen für Wechselschicht- und Schichtdienst getroffen werden müssen - da ich nicht denke, daß sie uns mehr geben werden, steht wohl zur Disposition, es zu kürzen. Und das hat natürlich einen erheblichen Einfluß auf unser Gehalt, das ist ganz klar."

"Für uns ist das so ein bißchen: zur Vordertür kommen 3,1 Prozent rein, und zur Hintertür wird uns das alles wieder weggenommen durch die Streichung der Wechselschichtzuschläge und Überstundenzuschläge oder eben die Umverteilung von Überstunden, durch diese Dinge. Es wird nichts übrigbleiben am Ende, im Gegenteil, es wird ein Minus geben."

KOMMENTAR:

Und die Bundesregierung, die angetreten war, die soziale Gerechtigkeit wieder herzustellen, sie stellt sich taub.

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OTTO SCHILY:

(Bundesinnenminister) "Ich kann die Enttäuschung nicht verstehen, denn es gibt ja jetzt durch diesen Lohnabschluß eine deutliche lineare Erhöhung, es gibt eine Einmalzahlung, die ja auch unter sozialen Gesichtspunkten eine Verbesserung auch grade der unteren Einkommensgruppen darstellt."

0-Töne KRANKENSCHWESTERN:

"Also, daß jetzt auf der einen Seite eben halt das beschönigt wird, daß wir 3,1 Prozent mehr bekommen, aber dann, so klammheimlich, bekommt man jetzt halt zu wissen, es wird irgendwie unterm Strich mehr gestrichen, eben bei diesen ganzen Zuschlägen."

"Es sind ja eigentlich keine 3,1 Prozent, die wir dann bekommen. Im Endeffekt bleibt ja weniger übrig."

KOMMENTAR:

Viele würden ja auf Geld verzichten, wenn dafür neue Jobs entstünden. Aber die Regierung hat eine Zusage für neue Arbeits- und Ausbildungsplätze verweigert. Im Gegenteil: billige Überstunden machen es möglich, reguläre Jobs zu streichen.

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RUDOLF HICKEL:

(Wirtschaftswissenschaftler)

"Wenn dies kommt, dann hat man dem Arbeitgeber ja ganz bewußt ein Instrument der Flexibilisierung in die Hand gegeben, das verhindert, daß neue Beschäftigung geschaffen wird. Das heißt also, insgesamt ist es beschäftigungspolitisch eine negative Konsequenz, die mit diesem Tarifvertrag verbunden ist. Es ist ganz eindeutig."

KOMMENTAR:

Im Klartext: weniger Jobs und weniger Geld. Dafür waren sie sicher nicht auf die Straße gegangen.

Abmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Zum ersten Mal hätte die Bundesregierung - in dem Fall ja sogar als Arbeitgeber - den politischen Willen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zeigen können. Herausgekommen ist ein unausgegorener Kompromiß. Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, speziell der Jugendarbeitslosigkeit, daran werden wir sie messen, unsere Regierung.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 04.03.1999 | 21:00 Uhr