Alte und Kranke unerwünscht - Erlebnisse beim Krankenkassenwechsel

Anmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Mehr Freiheit, mehr Auswahl für den Verbraucher, die Chance, Geld zu sparen - alles, was wir gut und richtig finden. Seit drei Jahren, immer zum 30. September, können gesetzlich Versicherte ihre Krankenkasse wechseln, sich also eine bessere, eine preiswertere suchen. Die Konkurrenz unter den Kassen sollte dann natürlich auch für niedrigere Beitragssätze sorgen, das ist zum Teil auch geschehen. Die Frist ist gerade wieder abgelaufen, und auch in diesem Jahr haben sich viele zu einem Wechsel entschlossen. Insgesamt sind es bereits rund drei Millionen Versicherte, die eine neue Krankenkasse haben und Geld sparen. Es könnte also eine liberale Erfolgsgeschichte sein - aber nur für junge und gesunde Menschen. Denn mit dem Solidarprinzip hat das nicht mehr viel zu tun, berichtet Anja Reschke.

Krankenkassenwechsel: Alte und Kranke unerwünscht
Rentnerin oder Dialyse-Patient: Wie "unbequemen" Versicherten beim geplanten Krankenkassenwechsel mitgespielt wird.

KOMMENTAR:

Jung, gesund und gutverdienend - damit ist Mario Schmidt für gesetzliche Krankenkassen ein Leckerbissen. Weil seine alte Kasse zu teuer ist, will er kündigen und wechseln. Die Angebote holt er sich per Internet. Alle Krankenkassen sind hier mit Beitragssätzen und regionaler Zuständigkeit verzeichnet. Ganz bequem kann sich Mario Schmidt die passende aussuchen.

Anderen fällt die Suche schon schwerer, wie dem Ehepaar Pfeilschifter aus Bayern. Ihre alte Krankenkasse, die BKK der Stadt Duisburg, hat zugemacht. Die Mitglieder mußten sehen, wo sie bleiben.

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HANNELORE PFEILSCHIFTER:

"Daraufhin bin ich zur AOK in Simbach gegangen, weil das für mich das Nächste war, und wurde natürlich nicht ganz freundlich abgewiesen mit der Begründung: wir kommen von der BKK, und in Altötting ist eine BKK."

KOMMENTAR:

Der Direktor der AOK Rottal-Inn will vom Wegschicken des Rentnerpaars nichts wissen.

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ERWIN REISER

(AOK-Direktion Rottal-Inn)

"Ich kann mir es momentan nicht vorstellen, aber ich möchte auch nicht sagen, daß wir alle heilig sind und daß dies nicht irgendwann mal vorkommen sollte. Aber ich stehe noch dahinter, daß ich einfach sagen muß, wir sind für unsere Versicherten da."

KOMMENTAR:

Die Pfeilschifters aber werden weiter nach Altötting verwiesen. Bei der Betriebskrankenkasse Ostbayern trifft das Ehepaar nur die Sekretärin an. Wieder keine Hilfe - sie sollen zu Hause auf den Außendienstmitarbeiter warten.

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HANNELORE PFEILSCHIFTER:

"Er war sehr freundlich und sehr höflich, sehr zuvorkommend und hat uns aber zu verstehen gegeben, daß sie eine kleine Betriebskrankenkasse sind und daß es uns in ein, zwei Jahren genau so geht wie bei der Stadt Duisburg, daß sie eventuell auch schließen müssen."

KOMMENTAR:

Eine billige Ausrede, um das Rentnerpaar auch hier loszuwerden.

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MANFRED BUCHBERGER:

(Vorstand Betriebskrankenkasse Ostbayern)

"Die wurden uns von der AOK hergeschickt, so quasi, wenn man die Frau gesehen hat, also das war - ich sag' jetzt mal - ein schlechtes Risiko, wenn man so was sieht, schlechtes Bein und so und alt. Und wir haben die aber nicht abgelehnt."

KOMMENTAR:

Aber wieder zurückgeschickt, zur AOK.

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HANNELORE PFEILSCHIFTER:

"Der hat uns natürlich mit einem weinenden Auge genommen, und er hat uns das auch fühlen lassen."

INTERVIEWERIN:

"Wieso? Inwiefern?"

HANNELORE PFEILSCHIFTER:

"Naja, weil er so rauh mit uns war und so. Er hätte ja sagen können zu uns: den Weg hätten Sie sich sparen können, hätte ich Sie man nicht dahin geschickt. Aber er hat wortwörtlich gesagt: Die machen es sich leicht, die schieben uns alle die Rentner zu."

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THOMAS ISENBERG:

(Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherverbände)

"Der eigentliche Skandal ist, daß die Krankenkassen eigentlich verpflichtet wären, jeden Versicherten aufzunehmen. Dieser Versicherte hat ein Recht, seine Krankenkasse zu wechseln, und die einzelnen Krankenkassen beraten dermaßen schlecht häufig bei diesen schlechten Risiken, daß man abgeschreckt ist, diese Krankenkasse in Anspruch zu nehmen."

KOMMENTAR:

Wie Rainer Deelmann. Er ist erst 43. Um etwas Geld zu sparen, will er von der Barmer in die Betriebskrankenkasse Flender in Bocholt wechseln. Allerdings: Rainer Deelmann ist nierenkrank. Dreimal in der Woche muß er zur Dialyse. Deshalb wird er von der BKK Flender zum persönlichen Termin geladen - eigentlich unüblich.

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RAINER DEELMANN:

"Daraufhin ging es dann los, daß sie fragte, ob das denn wohl sinnvoll wäre von uns, ich sollte mal überlegen, wir hätten in diese Kasse noch nie eingezahlt, und ob das solidarisch wäre gegenüber den Mitgliedern der Flender-Krankenkasse, wenn wir da jetzt reingehen, weil ein Dialyse-Patient ja doch sehr viel Geld kostet."

BRIGITTE DEELMANN:

"Man hat uns dann vorgelesen, in welche Kasse wir noch günstiger kämen. So, sagt sie, da ist eine Kasse, ich weiß jetzt nicht - das war aber alles im süddeutschen Raum - die wäre noch billiger wie die Flender. Da könnten wir uns ja anmelden, sollten dann aber verschweigen, daß er Dialyse-Patient wäre."

RAINER DEELMANN:

"In meinen Augen war das eine kleine Drohung, was anderes war es nicht."

INTERVIEWERIN:

"Und wie haben Sie sich dabei gefühlt?"

RAINER DEELMANN:

"Ja, ich muß ganz ehrlich sagen, ich habe mich sehr beschissen gefühlt, muß ich sagen. Man kam sich vor wie ein Mensch dritter Klasse."

KOMMENTAR:

Die Betriebskrankenkasse Flender bestreitet diese Vorwürfe, wollte sich aber vor der Kamera nicht äußern.

Solche Machenschaften sind vor allem für die etablierten Krankenkassen ein Problem.

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HANS-GEORG MÖLLMANN:

(Barmer Ersatzkasse Bocholt)

"Sie untergraben das System der Solidargemeinschaft, indem sie sich auf ganz bestimmte Personenkreise stürzen, um damit sicherzustellen, daß sie ein gesundes Mitgliederklientel haben, somit niedrige Leistungsausgaben, somit einen niedrigen Beitragssatz."

KOMMENTAR:

Was die Versicherten im Geldbeutel merken.

Die billigste Kasse ist die BKK Krupp Hösch, aber nur zugelassen für Hessen, Niedersachsen und Westfalen-Lippe, mit einem Satz von 11 Prozent. Günstig auch die BKK AKZO, geöffnet nur in Westfalen-Lippe mit 11,4 Prozent. Bis zu 1.000 Mark mehr pro Jahr müssen Versicherte bei den teuren Kassen bezahlen, wie zum Beispiel bei der BKK Sachsen-Anhalt, geöffnet für Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Sachsen, mit 14,5 Prozent. Spitzenreiter aber ist die AOK Berlin mit 14,9 Prozent Beitragssatz.

Bei den Leistungen können sich die Krankenkassen nur wenig unterscheiden. Den Großteil schreibt das Gesetz vor. Konkurrieren können sie also fast nur über den Beitragssatz, und der kann nur dann klein gehalten werden, wenn sie möglichst viele junge und gesunde Mitglieder anwerben - so wie Mario Schmidt, einfach über's Internet.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 14.10.1999 | 21:05 Uhr