Verzweifelt gesucht - Arbeitskräftemangel in der Computer- und Technologiebranche

von Bericht: Edith Heitkämper

Anmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

In Deutschland gibt es eine Branche, die boomt nicht nur, da werden Arbeitskräfte verzweifelt gesucht. Firmen holen Studenten mit Traumgehältern direkt von der Uni. Mitarbeitern, denen es gelingt, neue Kollegen zu werben, zahlen sie Kopfprämien. Das alles in unserem von Arbeitslosigkeit gebeutelten Land - kann das wahr sein? Wahr ist: In der Computertechnologie, im Telekommunikationsgeschäft hat man die Entwicklung verschlafen, das berichtet Edith Heitkämper.

KOMMENTAR:

Boom in der Telekommunikations-Branche. Ohne Ingenieure und Informatiker stünden Call-Center wie hier bei Talkline still. Doch die Spezialisten hinter den Kulissen sind rar, die neuen Telefongesellschaften reißen sich um die Bewerber. 200 offene Stellen allein bei dieser Firma, für die sie in Deutschland niemanden finden.

Arbeitskräftemangel in der Computerbranche
Dem Boom in der Computerbranche steht ein anwachsender Mangel an ausgebildeten Fachkräften gegenüber.

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HANS-ERICH VONDERHEID:

(Talkline)

"Wir suchen speziell im Bereich EDV im Moment in Kontinenten wie Afrika, Asien und sogar Australien - dort schalten wir beispielsweise Anzeigen, eigene Anzeigen in der "Indian Morning", wir schalten Anzeigen in "Sydney Morning", also in ganz exotischen Anzeigen, weil wir einfach in Deutschland den Bedarf nicht mehr decken können."

KOMMENTAR:

Die Auto-Branche. Für die Montage am Fließband kommen Einzelteile oft aus der ganzen Welt. Damit die Koordinierung klappt und die Autos termingerecht fertig werden, steuert ein Computersystem die gesamte Produktion. Ohne Informationstechnologie läuft in der Industrie nichts mehr. Hunderte von Firmen wurden neu gegründet. Auch die Münchner Firma Condat hat sich auf solche Systeme spezialisiert. Die Aufträge nehmen kein Ende, aber viele müssen abgelehnt werden - aus Mangel an Mitarbeitern.

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GABRIELA ZIMMERMANN:

(Condat Informationssysteme)

"Wir suchen seit einem Jahr händeringend, also händeringend heißt, daß wir die Stellen, die wir offen haben, nicht mit qualifiziertem Personal besetzen können. Das heißt, wir haben fünf Millionen Arbeitslose in Deutschland, aber keine Leute, die diese Stelle ausfüllen können."

KOMMENTAR:

Die klassische Computer-Branche - das gleiche Problem. Selbst vor großen Firmen wie Siemens oder IBM macht die Personalnot nicht halt. Hewlett Packard sucht bis Ende des Jahres 400 neue Mitarbeiter - Software-Entwickler und Anwendungsberater.

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JÖRG MENNO HARMS:

(Hewlett Packard)

"Das Angebot ist zu knapp, die Nachfrage ist dreimal größer. Und deswegen ist es sehr schwer, im gesamten technischen Bereich."

KOMMENTAR:

Der Euro kommt - das nächste Riesenproblem. Zahllose Geräte müssen bis zum Jahresende umgestellt werden, von der Supermarktkasse bis zum Großrechner. Und noch ein Mammut-Projekt: Wegen der Jahrtausendwende müssen fast alle Computer neu programmiert werden.

So ist ein regelrechter Kampf um Spezialisten entbrannt. Das Mißverhältnis von Angebot und Nachfrage ist laut Bundesanstalt für Arbeit verheerend.

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SIGMAR GLEISER:

(Bundesanstalt für Arbeit)

"Wir haben Hochschulabsolventen im Fach Informatik in der Größenordnung von etwa 6.000, und wir haben ein Angebot der Wirtschaft in der Größenordnung von etwa 20.000."

KOMMENTAR:

Dreimal so viele offene Stellen wir Bewerber, aber - man glaubt es kaum - gleichzeitig gibt es arbeitslose Computerfachleute.

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UWE JAHNCKE:

(Arbeitsamt Hamburg)

"Der arbeitslose Informatiker wird dann nicht genommen, wenn eben tatsächlich nicht alle Komponenten im Grunde mit dem übereinstimmen, was der Arbeitgeber sucht. Das ist, wie gesagt, im Fachlichen, auf der Hardware- und auf der Software-Seite, oder das ist im Auftreten. Denn heute ist es ja so, daß die Stellen häufig in den beratenden Bereich hineingehen, in den Vertriebsbereich hineingehen, und da haben eben einige durchaus Probleme. Die sind zwar fachlich soweit ganz gut, aber sie sind einfach von der Person nicht so, wie es die Firmen für die Kunden brauchen."

KOMMENTAR:

Manche sind Spezialisten, können aber ihr Wissen nicht vermitteln. Andere sind nicht auf dem neuesten Stand der Technologie. Doch die Firmen wollen keine Zeit mit Schulungen verlieren. Sie suchen den perfekten Mitarbeiter nicht im Arbeitsamt, sondern auf Fachmessen. Selbst kleine Firmen gehen auf Bewerberjagd. Verkehrte Welt - hier laufen die Unternehmer dem Informatik-Studenten hinterher und preisen ihre Stellen an. Nach jahrelangem Abwarten nun hektische Betriebsamkeit.

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CLEMENS MICHEL:

(Kienbaum Personalberatung)

"Der Boom wäre eigentlich absehbar gewesen, zumindest teilweise, weil viele Nachbarländer, England, Frankreich, aber auch die USA, Vorreiter waren, was die Privatisierung und den Telekommunikationsbereich angeht, und dort ähnliche Probleme schon vor fünf Jahren bestanden."

KOMMENTAR:

Doch vor fünf Jahren riet man Studienanfängern von Informatik eher ab. Die Industrie entließ sogar Programmierer. Heute fehlen die Fachleute, und keiner fühlt sich verantwortlich. Die Politik verweist auf mangelnde Beratung.

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JÜRGEN RÜTTGERS:

(Bundesbildungsminister)

"Bei den Berufsberatungen - ich bin manchmal da sehr unglücklich, da wird in alter Väter Sitte informiert und die neuen Entwicklungen zu spät ins Repertoire aufgenommen."

KOMMENTAR:

Doch die Bundesanstalt für Arbeit sieht die Verantwortung weniger bei der Berufsberatung als bei der Industrie. Der Schwarze Peter geht weiter.

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SIGMAR GLEISER:

(Bundesanstalt für Arbeit)

"Das, was die Wirtschaft selbst nicht erkannt hat, daß nämlich in diesem Markt eine solche explosionsartige Entwicklung stattfindet, das hat vielleicht auch die Berufsberatung so nicht erkennen können."

KOMMENTAR:

Den Vorwurf, geschlafen zu haben, läßt die Wirtschaft nicht auf sich sitzen und reicht wieder die Verantwortung weiter.

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HANS BERND FISCHER:

(Siemens)

"Wir haben natürlich gewußt, was auf uns zukommt, aber wir können ja die jungen Leute jetzt nicht motivieren, in die entsprechenden Studiengänge zu gehen. Und das Bildungssystem hat ja eine lange Reaktionszeit. Wenn heute junge Leute anfangen, ein solches Studium aufzunehmen, dann kommen sie nach fünf, sechs Jahren erst raus."

KOMMENTAR:

Fazit: Wenn es um den Personalmangel geht, fühlt sich keiner der Beteiligten mehr verantwortlich. Firmen, die heute über mangelndes Personal klagen, haben selbst nicht vorgesorgt. Und statt jetzt Arbeitslose fortzubilden, investieren einige lieber in eine weltweite Suche. Ihr Argument: die Deutschen sind zu unflexibel.

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HANS-ERICH VONDERHEID:

(Talkline)

"Die Wechselbereitschaft in Deutschland, sich auch räumlich zu verändern, ist immer noch begrenzt. Das sehen wir natürlich immer mit einem gewissen Bedauern, weil wir auch aus anderen Ländern - und ich hab' Ihnen erzählt, wir rekrutieren in Indien, wir erwarten dort, daß Leute von Neu-Delhi nach Elmshorn umziehen beispielsweise. Es gestaltet sich wesentlich leichter, als jemanden von München nach Elmshorn zu kriegen."

Abmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Keiner fühlt sich dafür verantwortlich, jeder reicht den Schwarzen Peter weiter - wie so oft.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 28.05.1998 | 21:00 Uhr