Zoff in der heilen Schlagerwelt - Wer singt für Deutschland beim Grand Prix?

von Bericht: Ilka Brecht und Sabine Platzdasch

Anmoderation:

PATRICIA SCHLESINGER:

Es gab Zeiten, da war noch wirklich alles in Ordnung. Damals, in den optimistischen 70ern: Tränen logen nicht, Wunder gab es immer wieder, auch Betten im Kornfeld, Fiesta Mexicanas, und später war das Leben ein Festival der Liebe. Bewahrer der heilen Schlagerwelt ist der "Grand Prix Eurovision de la Chanson". Der Titel des internationalen Wettbewerbs klang zwar schon immer deutlich besser als die meisten Musikstücke, die man dort zu hören bekommt, aber jetzt droht ein echter Skandal. Das deutsche Image auf der internationalen Schlagerbühne ist ernsthaft in Gefahr, denn plötzlich gibt es ein deutsches Liedgut, das weder vom Inhalt noch von der Präsentation rundherum appetitlich ist. In der Welt der Fönfrisuren und Schwiegersohntypen ist dieser schräge Vogel aufgetaucht: Guildo Horn, ein ehemaliger Musiktherapeut, der sich als Sangesbruder zu Höherem berufen fühlt und der dem deutschen Schlagergut neues Leben einhauchen möchte. Zum nationalen Musikstolz beim Grand Prix in Birmingham wird der deutsche Barde mit dem Widerling-Image nun beitragen, die Entscheidung ist gerade eben gefallen, und selbst in der PANORAMA-Redaktion laufen noch die Telefone heiß. Aber die alteingesessene, schläftig-behäbige Konkurrenz ist aufgeschreckt und empört.

Zoff in einer heilen Schlagerwelt: Wer singt beim Grand Prix
Krasse Meinungsverschiedenheit nach dem Vorentscheid zum Grand Prix Eurovision 1998: Gewinner ist Guildo Horn.

Ilka Brecht und Sabine Platzdasch sind gerade eben mit dem Stück fertig geworden.

KOMMENTAR:

Vor einer halben Stunde in Bremen.

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AXEL BULTHAUPT:

(Moderator)

"Ich sag' die Prozente, du sagst den Namen. Der Platz 1 mit, laß noch mal gucken, 62 Prozent der Anrufer. Ein eindeutiges Ergebnis: Guildo Horn."

KOMMENTAR:

Guildo Horn gewinnt die deutsche Vorausscheidung für den Grand Prix Eurovision und fährt damit für Deutschland nach Birmingham. Ob sich die europäische Schlagerkonkurrenz den deutschen Barden so vorgestellt hat? Der selbsternannte Kreuzritter der Zärtlichkeit sucht Hautkontakt zu seinen Fans.

Und für seine Fans ist er der Meister. Noch vor einer Stunde haben sie auf Guildo-Horn-Partys im ganzen Land mit ihm gefiebert. Und das Handy hat der Guildo-Horn-Fan immer am Mann.

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FAN:

"Meine kleine Stimme, meinen Beitrag für Guildo, für Deutschland geben."

INTERVIEWER:

"Meinst du, das wird was bringen?"

FAN:

"Absolut, jede Stimme zählt."

KOMMENTAR:

Und die Rechnung ging auf.

Die Fans feiern Guildos Triumph über die ganze etablierte Schlagerbranche.

Und er ist der große Verlierer: Ralph Siegel, Schlagerkomponist und Produzent. Seit Jahren beherrscht er nahezu konkurrenzlos die deutsche Schlagerszene und hatte gleich drei Gruppen ins Rennen geschickt. Umsonst - ihm bleibt nur die Erinnerung an 1982, als er mit Nicole gewann.

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NICOLE:

"Ein bißchen Frieden ...."

KOMMENTAR:

Zur Zeit des Kalten Krieges zog sein kleines Friedenslied. Vorgestern, 16 Jahre danach. Nervosität bei der Probe für den heutigen Wettbewerb. Siegels Stars sollen im rechten Licht erscheinen. Handlungsanweisungen für den Erfolg. Er ist süchtig nach dem Grand Prix-Gewinn.

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RALPH SIEGEL:

(Musikproduzent)

"Es ist ein großer Traum, und immer ist es eben so, daß ein Komponist, der sitzt am Klavier, in einem Zimmer oder in einer Bar, und spielt dann ein Lied, und der Traum, daß 600 Millionen Menschen dieses Lied dann hören, und daß man mit diesem Lied sein Land vertreten kann, das ist natürlich ein Traum, den man eigentlich nie aufgeben kann."

KOMMENTAR:

Dieser Mann hat den gleichen Traum, und er kämpft dafür mit seinen Mitteln. In der schönen Schlagerwelt ist nichts mehr, wie es war, seitdem Guildo Horn mit Fetthaar und Schweiß einen ganz neuen Zauber versprüht. Seine Bewerbung um den ehrwürdigen Grand Prix galt manchen als Kriegserklärung. Deshalb interessierte sogar sein Lieblingsgebäck die Medien. Die geniale PR-Kampaagne seines Managements ist aufgegangen. In den vergangenen Tagen scharte sich alles um Guildo Horn. Schon da war klar: Ob er heute siegt oder nicht - er ist auf alle Fälle der Gewinner.

Der Neuling im Grand-Prix-Geschäft hat die alte Garde schwer erschüttert. Und die es schon seit Jahren ernst meinen, fühlen deshalb mit Ralph Siegel.

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IVOR LYTTLE:

(Grand Prix-Fanclub)

"Ralph Siegel ist ein sehr seriöser Komponist. Also der glaubt wirklich an seine Sache, und ich glaube, das geht ihm doch ein bißchen ans Herz mit diesem ganzen Rummel um Guildo Horn. Also der fühlt, daß er jahrelang dabei war, und auf einmal stiehlt ihm jemand die Show."

KOMMENTAR:

Das Lied vom Schlagerkrieg, Guildo Horn gegen das Establishment - alle wollten es hören. Statt dessen scheinheilige Eintracht.

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GUILDO HORN:

"Wir haben gestern abend ein bißchen miteinander geredet. Das war sehr nett gewesen. Er hat nachher noch am Piano gesessen und gespielt, ein Potpourri seiner größten Melodien. Also nach eineinhalb Stunden war es noch immer nicht vorbei."

KOMMENTAR:

Auch Ralph Siegel übt derweil die leisen Töne. Die neue Strategie nach mehreren Wochen PR-Schlacht: Ein bißchen Frieden - mit Guildo Horn.

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RALPH SIEGEL:

"Ich hab' noch nie mit ihm gestritten, dann kann ich mich auch nicht versöhnen mit ihm."

KOMMENTAR:

Die Berliner Szene-Gruppe Rosenstolz. Auch sie singen gegen Ralph Siegels künstliche Grand-Prix-Produkte.

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ANNA R.

("Rosenstolz")

"Wir erleben das, worüber wir singen, und dann denk' ich mal, daß die Leute das auch mitkriegen."

PETER PLATE:

("Rosenstolz")

"Was ich eigentlich so schade finde, ist, daß halt immer Retortengruppen für den Grand Prix zusammengewürfelt werden, Gruppen, die sich vorher nicht kennen und die sich nachher, wenn sie verlieren, auch nie wiedersehen werden."

KOMMENTAR:

So wie diese Siegel-Truppe: Sharon und die Kids - oder: Köpenick - oder: Ballhouse. Dreimal ließ Siegel heute abend die Puppen tanzen. Und er ist glücklich, wenn seine Künstler seine Musik in seinem Sinne umsetzen, streng nur auf ein Ziel gerichtet.

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RALPH SIEGEL:

"Alle drei Titel haben eins gemeinsam: Man versteht das Wort in jedem Land, man weiß, was Kids sind, man weiß, was Cancan ist, man kennt Karneval auf der ganzen Welt. Und sie haben alle drei die Eigenschaft, freundlich und fröhlich zu sein."

KOMMENTAR:

Auch Joy Flemming kennt das Geschäft mit dieser Fröhlichkeit seit Jahren - sie ist es leid.

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JOY FLEMMING:

"Man macht's sich einfach, so wie Ralph Siegel, man macht's sich einfach. Man stellt eine Truppe hin, jeder kriegt die gleichen Klamotten an, jeder übt das gleiche Schrittchen, und darauf kommt's gar nicht an."

KOMMENTAR:

Die deutsche Grand-Prix-Bilanz der letzten Jahre: eine Abfolge von Peinlichkeiten. 1995 gab es nur einen Punkt - aus Malta. 1996 konnte sich der Frisör Leon noch nicht einmal für das Finale qualifizieren. 1997 hörte man die Siegel-Komposition "Zeit" - einmal beim Grand Prix und danach nie wieder.

Jetzt soll alles besser werden. Neue Schlager braucht das Land.

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JÜRGEN MEIER-BEER:

(Veranstalter, NDR)

"Der Grand Prix wurde in den letzten zehn Jahren immer mehr zum Gespött. Man hat ihn angeguckt, um sich drüber lustig zu machen. Das war ja auch begründet. Das schlimmste Indiz war, daß - abgesehen vom vergangenen Jahr - die Siegertitel Grand Prix auf dem europäischen Plattenmarkt nicht existiert haben, das heißt: der Grand Prix hat sich von dem normalen Geschmack der Musikhörer, der Fernsehzuschauer total wegentwickelt."

KOMMENTAR:

Eine Entwickllung, die Ralph Siegel nicht wahrhaben will. Noch einmal ein bißchen siegen - dabei hat er doch schon längst verloren.

Abmoderation/Verabschiedung:

PATRICIA SCHLESINGER:

Schlager-Freaks mit einer aufrichtigen Sehnsucht nach heiler Welt und ebensolchen Gefühlen.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 26.02.1998 | 21:45 Uhr