Protest mit Glühwein - Erster Aktionstag der Arbeitslosen in Deutschland

Anmoderation:

PATRICIA SCHLESINGER

Für die Pressefreiheit, für die bürgerlichen Rechte sind vor genau 150 Jahren Menschen auf die Straße gegangen, auch gegen Arbeitslosigkeit und Armut. 1848 war Revolution in Deutschland. In der vergangenen Sendung habe ich gesagt: "Angesichts der hohen Arbeitslosenzahlen wundere ich mich, daß es hier so ruhig ist." Heute wurde wieder eine neue Rekordmarke verkündet, und heute war es ja auch nicht mehr ganz ruhig. Heute sollte Revolte sein, und alle, von Sozialminister Blüm bis zum letzten Arbeitsamtdirektor, alle unterstützten die Proteste. "Was die Franzosen können, können wir schon lange", hieß es. Aber außer einem französischen Frühstück, das die Demonstranten in Oldenburg vom Arbeitsamtdirektor serviert bekamen, erinnerte nur wenig an die Unruhe bei den Nachbarn.

Erster Aktionstag der Arbeitslosen
Aktionstag der Arbeitslosen: Panorama berichtet 1998 über die "Revolte" gegen Massenarbeitslosigkeit in der BRD.

Meine Kollegen haben beobachtet, wie eine Revolte in Deutschland vorbereitet wird - und wie sie dann ausfällt.

KOMMENTAR:

Frankfurt am Main, heute mittag. 54.000 Menschen sind hier ohne Job, rund 300 zogen zum Protest vor das Arbeitsamt.

Würzburg: 18.000 Arbeitslose meldet hier das Arbeitsamt, rund 50 Demonstranten beteiligen sich am Aktionstag.

Bremen: Über 40.000 Arbeitslose leben in der Hansestadt, ganze 150 von ihnen protestieren im Foyer des Arbeitsamtes. Und dabei sollte heute der Tag sein, an dem französische Verhältnisse in Deutschland herrschen. Dort besetzten französische Arbeitslose wochenlang die Arbeitsämter. Gewaltsam mußten Ämter geräumt werden. Die Pariser Börse wurde gestürmt. Am Ende verhandelte die Regierung direkt mit den Arbeitslosen. Der französische Protest wurde zum Vorbild für die Deutschen.

Hamburg, vergangene Woche. Beginn der Vorbereitung. Mobilmachung beim Arbeitslosenfrühstück.

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ESDERT DENERT:

(Arbeitsloseninitiative Hamburg)

"Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir streiken für Arbeit und soziale Gerechtigkeit. Und was die Kolleginnen und Kollegen in Frankreich können, das könnt ihr schon lange, da sind wir uns ganz sicher."

KOMMENTAR:

Die Arbeitslosen der Hansestadt sollen am Aktionstag geschlossen aufmarschieren.

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ESDERT DENERT:

"Und ihr seid angehalten, da mitzumachen, weil es auch eure Belange sind, die wir ja mit vertreten."

KOMMENTAR:

Der Mann von der Arbeitsloseninitiative gibt alles, doch revolutionäre Begeisterung will nicht so recht aufkommen.

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INTERVIEWER:

"Was sagen Sie zu den Kollegen in Frankreich?"

ARBEITSLOSER:

"Ich weiß gar nicht, was da gelaufen ist."

ARBEITSLOSER:

"Ist ein starkes Stück, ich glaub', hier würde sich das keiner zutrauen, daß er hingeht und am Arbeitsamt randaliert und woanders - wie sagt man - Bambude macht oder irgendwas. Ich glaube, das wird hier nicht passieren, hier haben sie alle zu viel Angst wahrscheinlich."

INTERVIEWER:

"Warum, wovor?"

ARBEITSLOSER:

"Ja, ich nehme an, dafür, daß sie vielleicht das Arbeitslosengeld gestrichen kriegen, wenn sie ihre Personalien wissen oder irgendwas."

KOMMENTAR:

Zur selben Zeit in Chemnitz bei der Initiative "Neue Arbeit". Die ehemalige Werbegestalterin Inge Klemm ist seit sechs Jahren ohne Job. Jetzt malt sie gegen die Arbeitslosigkeit an, mit gemischten Gefühlen.

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INGE KLEMM:

(Arbeitsloseninitiative Chemnitz)

"Ich will's hoffen, daß wir Erfolg haben, aber ich habe Bedenken, muß ich ganz ehrlich sagen, so schade wie es ist. Ich meine .... da war die Stadt voll von Leuten, und jetzt - irgendwie verkriechen die sich alle auf ihr Sofa und lassen den lieben Gott einen frommen Mann sein."

KOMMENTAR:

Draußen vorm Arbeitsamt: Aktivistin Doris Müller verteilt bei minus 11 Grad allein an diesem Tag 600 Flugblätter. Doch sie weiß, das will noch nichts heißen, denn es ist schwer, Arbeitslose zu mobilisieren.

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DORIS MÜLLER:

(Arbeitsloseninitiative Chemnitz)

"Darf ich Ihnen auch eins geben?"

PASSANT:

"Danke."

DORIS MÜLLER:

"Der Arbeitslose fühlt sich persönlich als Verlierer, bis zum gewissen Grad sogar schuldig. Man suggeriert's ja auch. Und zu einer Schwäche, die man so meint zu haben, möchte man ja nicht unbedingt stehen. Also man versteckt sich eher."

KOMMENTAR:

Schwerin. Demoaufruf per Telefon. Die örtliche Arbeitsloseninitiative ruft wahllos Nummern aus dem Schweriner Telefonbuch an. Klingt aufwendig, ist hier aber sehr effizient.

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HORST-DIETER HOLZ:

(Arbeitsloseninitiative Schwerin)

"Naja, bei 25 Prozent Arbeitslosigkeit in Mecklenburg-Vorpommern durchschnittlich haben wir uns gedacht, daß die Trefferquote, wenn ich im Telefonbuch nachschlage, einen Namen aufschlage, daß bei dem Namen garantiert im Umfeld - oder wenn nicht sogar er selbst - ein Arbeitsloser zu finden wäre."

KOMMENTAR:

Karlsruhe. Lagebesprechung im Arbeitslosenzentrum Ikarus.

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HARTMUT PLEIER:

(Direktor Arbeitsamt Karlsruhe)

"Unser Motto ist: "Arbeitslos, aber nicht wehrlos". Wir wollen eigentlich auch unserem Arbeitsamt mal zeigen, daß hier durchaus französische Verhältnisse herrschen können. Wir werden auch - und das werde ich persönlich mit initiieren - den Arbeitsplatz des Arbeitsamtsdirektors besetzen."

KOMMENTAR:

Arbeitsamtsdirektor Hartmut Pleier sieht das ganz gelassen. Schließlich haben die Arbeitslosen ihn vorher um Erlaubnis gefragt. Er besteht bei der Karlsruher Revolution auf Einhaltung der Öffnungszeiten.

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INTERVIEWERIN:

"Wie lange darf er denn dann sitzen bleiben?"

HARTMUT PLEIER:

"Mit Sicherheit nicht bis in die späten Abendstunden. Wir haben am Donnerstag bis 18 Uhr geöffnet, das ist also die absolute Grenze."

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SIEGFRIED AULICH:

(Arbeitsloseninitiative Karlsruhe)

"Ich würde sagen, es ist momentan eine geordnete Aktion, ein Anfang einer Kampagne. Eine Kampagne muß auch noch gewisse Steigerungsformen haben. Und in der Form ist es eine Art Kleindemonstration mit einer punktuellen Besetzung. Und wir wollen uns dann auch anständig zu gegebener Zeit wieder entfernen aus diesem Arbeitsamt."

KOMMENTAR:

In der Chemnitzer Bastelstube sind die Vorbereitungen für den Aktionstag inzwischen weit vorangeschritten. Inge Klemm bemalt jetzt Bretter für den Hackklotz gegen die Arbeitslosigkeit.

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ARBEITSLOSE:

"Wir wollen an diesem Donnerstag auf diesem Hackstock alles das zerhacken, was in diesem Staate zum Opfer gefallen ist, wie zum Beispiel Arbeitsplätze, Renten, Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und noch vieles mehr."

"Ich hab' hier jetzt so viel, das kriege ich gar nicht alles auf eine Pappe, so viele Forderungen haben wir einfach."

KOMMENTAR:

So fleißig waren die Hamburger nicht. Dort schreitet Helmut Diekwisch, Leiter der Arbeitsloseninitiative, eher routinemäßig zum Aktionstag.

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HELMUT DIEKWISCH:

"So, hier haben wir den Keller, in dem wir unsere Requisiten aufbewahren, Transparente, Plakate. Die sind zeitlos, die haben wir seit 1984, die brauchen wir nicht neu malen oder neu kleben, die sind so aktuell wie vor über zehn Jahren. Das sind Rotstifte gegen die Streichungspolitik, hier ist das Kohl-Plakat, auch sie können wir uns sparen, das ist auch zeitlos, der ist ja schon fünfzehn Jahre Kanzler. Hier ist die DGB-Fahne. Und dieser ganze Keller ist voll mit diesen Transparenten und Plakaten."

KOMMENTAR:

Das Karlsruher Arbeitsamt, kurz vor der badischen Arbeitslosenrevolte. Für die Glasflächen im Eingangsbereich haben sich die Protestler etwas ganz Besonderes ausgedacht. Hier wollen sie ihre vergeblichen Bewerbungsschreiben öffentlich plakatieren.

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DIETRICH HAHN:

(Arbeitsloseninitiative Karlsruhe)

"Wir wollen das etwas gesittet machen, wir wollen also nicht die Wände mit Tapetenkleister beschmieren, sondern wir wollen es einfach mit Tesa anheften, das läßt sich hinterher sehr schnell und sehr sauber wieder entfernen. Wir nehmen zu aller Vorsicht auch noch eine Flasche Spiritus mit, daß wir also da auch wirklich sauber das Arbeitsamt verlassen und nicht hinterher als die Beschmuddler eigentlich dastehen."

KOMMENTAR:

So höflich gingen die französischen Arbeitslosen nicht zu Werke. Sie leisteten Widerstand, ihre Hartnäckigkeit brachte die Regierung an den Verhandlungstisch. Jetzt sollte der Funke aus Frankreich auf Deutschland überspringen.

Der Aktionstag heute in Karlsruhe. Mit Tesafilm für neue Arbeitsplätze.

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DIETRICH HAHN:

"Ich habe sogar einen Müllsack mit, wo wir das alles hinterher reintun können."

KOMMENTAR:

Während Dietrich Hahn fleißig weiterklebt, haben sich draußen von 26.000 Karlsruher Arbeitslosen rund 150 versammelt. Im Arbeitszimmer des Direktors wird der Stuhl besetzt. Dann werden die Reden gehalten.

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HARTMUT PLEIER:

".... Tatsache ist natürlich, daß durch die Wirtschaftslage gewisse Engpässe entstanden sind."

KOMMENTAR:

Am Ende lädt Arbeitsamtsdirektor Pleier die Protestler zu einer Tasse Kaffee in die Kantine ein. So viele sind es ja auch nicht.

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ARBEITSLOSER:

"Ich hab' gestern abend mit drei, vier engen Kumpels telefoniert, die auch alle arbeitslos sind. Ich hab' heute morgen keinen gesehen. Ich kann nur sagen, das ist vielleicht irgendwo typisch deutsch, daß man erstmal abends im Fernsehen ein paar Leute sehen muß, bevor man sich vielleicht nächste Woche dann auch seinen persönlichen Hemmungen, Ängste etc. überwindet und sich auch zeigt."

KOMMENTAR:

In Schwerin kommen 250 Demonstranten vor das Arbeitsamt. Ein Erfolg, sagen die Initiatoren. So mancher Sympathisant sieht das anders.

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DEMONSTRANT:

"Ich komme extra aus Lankau als 78jähriger hierher mit dem Fahrrad, um die Arbeitslosen zu unterstützen, aber die liegen wohl zum größten Teil noch in den Betten. Denn sonst müßten doch alle Arbeitslosen hier sein."

KOMMENTAR:

Dabei haben die, die gekommen sind, einen kühnen Plan: die Besetzung des Arbeitsamts, auch bei Nacht. Die Schlafsäcke liegen schon bereit. Im Amt wartet bereits die Presse, um die Besetzung zu dokumentieren. Der Pressesprecher des Arbeitsamts schafft Platz für das Nachtlager der Aktivisten. So herzlich eingeladen, dringen tatsächlich drei Mutige ein.

Die Schweriner Amtsbesetzung wird morgen in der Landespresse für Schlagzeilen sorgen.

Doch kaum sind die Bilder im Kasten, ist die Besetzung zuende. Nur zu dritt, so ganz allein, wollten die Besetzer dann doch nicht im Arbeitsamt bleiben.

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DEMONSTRANTIN:

"Eigentlich müßten wir ein bißchen mehr haben, daß wir nun nicht ganz allein wie verloren hier sind."

INTERVIEWER:

"Also ganz allein werden Sie jetzt hier auch nicht bleiben wollen?"

DEMONSTRANTIN:

"Wenn ich ehrlich bin, hab' ich nachher Angst."

KOMMENTAR:

Die Aktion in Schwerin ist zuende. Im Arbeitsamt ist man irgendwie enttäuscht.

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INTERVIEWER:

"Das ist aber relativ wenig, finden Sie nicht auch?"

DOROTHEA NIEMANN:

(Arbeitsamt Schwerin)

"Ja, nur ich kann doch nicht die Betroffenen auffordern, bei uns zu demonstrieren."

KOMMENTAR:

Chemnitz, heute kurz nach zehn. 500 Arbeitslose sind gekommen, 55.800 sind weggeblieben. Chemnitz hat gerade die höchste Arbeitslosenzahl in seiner Geschichte. Gleich an der Treppe: heißer Tee gegen soziale Kälte. Der Hackklotz gegen die Arbeitslosigkeit ist der Höhepunkt der Kundgebung. Die zerhackten Bretter werden in einem Papierkorb verbrannt. Ein Hauch von Frankreich. Die Chemnitzer Veranstalter sind mit dem Ablauf zufrieden.

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FRAU MÜLLER:

"Wenn ich mir überlege, daß wir über 50.000 Arbeitslose haben - aber vielleicht kommen noch ein paar. Es ist, denke ich, kein schlechter Anfang."

KOMMENTAR:

Gekommen ist dann aber doch keiner mehr. Um 11.50 steht nur noch ein einsamer Demonstrant vor dem Chemnitzer Arbeitsamt.

In Hamburg kommen die Klassiker zum Einsatz: die Plakate aus dem Keller. Das Arbeitslosenfrühstück am Aktionstag. Die bewährten Protestplakate werden herbeigeschafft.

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HELMUTH DIEKWISCH:

(Arbeitsloseninitiative Hamburg)

"Ja, wir streiken für soziale Gerechtigkeit und für mehr Arbeitsplätze, das habt ihr alle mitbekommen. Und vor dem Arbeitsamt könnt ihr auch eurer Wut freien Lauf lassen. Also macht kräftig mit, die Emotionen rauslassen. Also das heißt nicht Gewalt, das meine ich nicht damit."

KOMMENTAR:

Mit Kohl-Plakat und Rotstift geht's dann auf zum Protest. Die Hamburger Zahlen: von 98.000 Arbeitslosen kommen rund 800. Letzte Korrekturen an der Aufstellung. Nach zwanzig Minuten ist alles bereit. Die Reden sind schnell gehalten.

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DEMONSTRANT:

"Die müssen die Suppe auslöffeln, die in Bonn eingebrockt worden ist."

KOMMENTAR:

Die Begeisterung der Demonstrationsteilnehmer hält sich in engen Grenzen.

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HELMUTH DIEKWISCH:

(Arbeitsloseninitiative Hamburg)

"Leider, leider, sag' ich ganz ehrlich, ist mehr Presse hier wie Arbeitslose. Aber vielleicht bei der zweiten, dritten oder vierten Demonstration, daß das Verhältnis ein bißchen anders ist. Es müßte so sein wie in Frankreich: Reingehen und wirklich mit der Hand auf den Tisch hauen. Es geht so nicht mehr weiter."

KOMMENTAR:

In Hamburg hat man zum Ankleben der Bewerbungsschreiben übrigens Haftetiketten verwendet.

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ESDERT DENERT:

(Arbeitsloseninitiative Hamburg)

"Die werden wieder abgenommen, das sind Selbstkleber, die kann man so wieder abnehmen, und wir werden hier alles besenrein wieder hinterlassen."

Abmoderation:

PATRICIA SCHLESINGER

Bloß keine Spuren hinterlassen - weitgehend folgenloser Protest. Man kann den Arbeitslosen nur wünschen, daß das erst der Auftakt war. Von einer sozialen Bewegung, die etwas verändern könnte, sind sie noch weit entfernt. Unsere Politiker äußerten ganz viel Verständnis für die Arbeitslosen, wie schon vor wenigen Wochen auch für die Studenten - aber mehr auch nicht. Was sollten sie auch sagen: Tut uns leid, wir wissen auch nicht weiter?

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 05.02.1998 | 21:00 Uhr