Abschied und Aufbruch - Bonner Politiker nach dem Wechsel

von Bericht: Jochen Graebert und Sabine Platzdasch

Anmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Erschütterungen in der CDU, große Anstrengungen in der SPD und bei den Grünen, das neugewonnene Vertrauen nun doch nicht sofort zu enttäuschen. Das Ergebnis der letzten Wahl der "Bonner Republik" hat das Ende einer Ära eingeläutet. Dieser viel kommentierte und debattierte epochale Wechsel hat aber auch ganz menschliche Züge. Jochen Graebert und Sabine Platzdasch haben Abgeordneten beim Ein- und beim Auspacken zugesehen.

Bonner Politiker nach dem Wechsel
Mit dem Führungswechsel in Bonn und dem Ende der Ära Kohl hat in Bonn der große Umzug der Abgeordneten begonnen.

KOMMENTAR:

Ankunft in Bonn, 13. Stock. Katharina Reiche, 25 Jahre, frischgebackene CDU-Abgeordnete aus Potsdam, Jungunternehmerin. Als Hinterbänklerin, sagt sie, will sie hier nicht versauern. Eine, die es wissen will, die den Mund aufmacht in Bonn.

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KATHARINA REICHE:

"Ich habe in der ersten Sitzung unserer Landesgruppe gesagt, wir müssen uns als 24-Stunden-Service verstehen, um für Menschen da zu sein. Dieser Gedanke mag auch etwas plakativ sein, den würde ich ganz gern vertreten."

INTERVIEWER:

"Was wurde daraufhin gesagt, wie war die Reaktion?"

KATHARINA REICHE:

"Ja, etwas lange Gesichter."

KOMMENTAR:

Ein paar Häuser weiter. Auch die neue SPD-Abgeordnete will mit der alten Politik gründlich aufräumen und fängt schon mal in ihrem zukünftigen Büro damit an. Nina Hauer aus Hessen, gerade 30 geworden, Gemeinschaftskundelehrerin. Aufbruchstimmung bei den neuen Abgeordneten in der SPD-Fraktion, zwischen Kisten, Koffern und Kartons.

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NINA HAUER:

"Wir sind eine neue Generation, und wir werden uns auch lauthals zu Wort melden. Also wir sind kleine Rädchen, aber ich glaube, wir können auch ganz schön Krach machen."

KOMMENTAR:

Krach machen erstmal die da oben. CDU-Fraktionssitzung vorgestern abend, Medienrummel um die Erben von Noch-Kanzler Helmut Kohl. Die Abgeordnete Katharina Reiche hat ganz andere Sorgen: Wo geht’s hier überhaupt lang? Wie lange dauert das mit dem Büro? Fehlt da noch ein Formular? Durchbeißen im Raumschiff Bonn.

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KATHARINA REICHE:

"Nach einigem Hin und Her habe ich jetzt ein Büro zugewiesen bekommen. Und weil ich das Hin und Her der vergangenen Tage ein bißchen nervig fand, werde ich mich jetzt da reinsetzen und gehe auch nicht mehr raus, und da soll erstmal einer kommen, der mich dann da raussetzt. Ich werde jetzt meine Arbeit beginnen, ziehe dort ein, dann ist erstmal Ende der Fahnenstange."

KOMMENTAR:

Die Abgeordnete Nina Hauer hat es eilig, sehr eilig. Sie ist auf dem Weg zu ihrer ersten Parteiratssitzung. Beginn: Punkt 13 Uhr, eigentlich. Manchmal fühlt sie sich in Bonn schon noch etwas verloren. Sie spürt, hier muß man kämpfen, um nach vorne zu kommen. Und ein bißchen Lampenfieber ist auch dabei.

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NINA HAUER:

"Es ist mir schon bei einigen Aufgaben flau. Flau ist mir auch bei der Vorstellung, daß es wahrscheinlich so, wenn wir uns so weiter so durchsetzen können als Neue, Junge, wie uns das bisher gelungen ist, sonst wären wir auch alle nicht hier - vielleicht gar nicht lange dauern wird, daß wir vor dem Bundestag auch reden. Und dabei ist mir auch ein bißchen flau."

KOMMENTAR:

Das hat sie jetzt alles hinter sich. Editha Limbach, CDU, nimmt Abschied nach zwölf Jahren Bundestag. Den Entschluß zu gehen faßte die Abgeordnete an ihrem 65. Geburtstag.

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EDITHA LIMBACH:

"Da habe ich gedacht, es sei der richtige Zeitpunkt, abzutreten, einem Jüngeren Platz zu machen. Und außerdem wollte ich auch gerne zu einem Zeitpunkt abtreten, wo die Leute es noch ein bißchen bedauern und nicht sagen: Gott sei Dank, die Alte ist endlich weg."

KOMMENTAR:

Die Familienfotos bleiben bis zum letzten Arbeitstag stehen.

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EDITHA LIMBACH:

"Ich glaube, ohne Familie hätte ich auch die Anstrengungen und das, was ich so gemacht habe, gar nicht tun können, wenn die nicht zu mir gehalten hätte und wenn nicht ab und zu auch mal so ein Enkelkind kommt und sagt: Großmutter, ich hab’ dich lieb, wenn man gerade aus einer Veranstaltung kommt, wo einem alle Leute gesagt haben, man wäre fast ein kompletter Vollidiot. Das ist schon sehr schön und hilft, und ich will meine Familie da, wie gesagt, so lange sehen, bis ich das Büro verlasse."

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CHRISTIAN SIMMERT:

"Das ist Adressenverteiler, das stellen wir - kannst du da oben rechts hinstellen."

KOMMENTAR:

Aufbruchstimmung bei Christian Simmert von den Grünen. Der 25jährige fiebert rot-grünen Zeiten entgegen, aber so richtig fassen kann der Abgeordnete den Machtwechsel immer noch nicht.

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CHRISTIAN SIMMERT:

"Ich hab’ Kohl nur als Kanzler erlebt, ich kenne niemanden anders als Kohl, und es ist schon etwas merkwürdig, wenn es dann Kohl auf einmal nicht mehr gibt. Das ist einfach für einen persönlich - und ich denke auch, für die junge Generation - ein ganz komisches Gefühl, daß Kohl auf einmal nicht mehr da ist. Ich weine ihm eigentlich keine Träne nach, aber das ist nun mal so.

KOMMENTAR:

Tatsache ist auch: Wer in Bonn keinen Plan hat, der bleibt auf der Hinterbank. Abgeordnete Marga Elser, SPD, aus Ostwürttemberg bewegt sich noch etwas unsicher auf dem Bonner Parkett.

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MARGA ELSER:

"Ich habe großen Respekt vor der Leistung vieler hier. Und ich hab’ natürlich auch ein bißchen Muffe, wie man so schön sagt, ob ich da nicht untergehe."

KOMMENTAR:

Ohne Anmeldung, naja, die Verwaltung läßt heute Milde walten. Die weiteren Verhandlungen in der Materialausgabe des Deutschen Bundestages finden hinter verschlossenen Türen statt.

Bald darauf gibt Abgeordneter Simmert das Ergebnis den Medien bekannt.

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CHRISTIAN SIMMERT:

"Wir haben jetzt versucht, drei Schlüssel zu kriegen, und haben ein Drittel unseres Solls erfüllt, nämlich genau einen Schlüssel gekriegt."

KOMMENTAR:

Und das ist der Jüngste im Bunde. Mit seinen 22 Jahren wird Carsten Schneider in die Geschichtsbücher eingehen. Der Sozialdemokrat aus Erfurt ist der jüngste Bundestagsabgeordnete aller Zeiten. Ständig von Terminstreß geplagt, bemerkt er gar nicht die kleinen Privilegien eines Volksvertreters. Büro, Sekretärin, Fahrdienst, das verpflichtet. Es gibt jetzt viel für Schneider zu tun, für Erfurt und für die SPD.

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CARSTEN SCHNEIDER:

"Ich habe auch eine sozialer Verantwortung."

KOMMENTAR:

Schnösel, das hat er im Wahlkampf öfter gehört. Mangel an Erfahrung haben sie ihm vorgeworfen, der Abgeordnete Schneider sieht das ganz anders.

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CARSTEN SCHNEIDER:

"Erfahrung heißt doch nur, daß man immer nur diesen Weg, den man schon immer kennt, und nicht bereit ist, auch mal über seinen Schatten zu springen und mal was Neues zu machen. Und ich denke, daß ich das machen werde und daß das dem Bundestag an sich ganz gut tut."

KOMMENTAR:

Hier werden gerade 26 Jahre Erfahrung entsorgt. Peter Conradi, SPD-Abgeordneter seit 1972 in Bonn, geht jetzt in Rente und zieht Bilanz.

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PETER CONRADI:

"Ich sehe es auch auf einmal - was hatte ich damals für große Vorstellungen, was wollte ich alles machen. Und es ist doch sehr viel weniger geworden. Das heißt, im Nachhinein sieht man, wie begrenzt die Möglichkeiten eines Abgeordneten sind."

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 08.10.1998 | 21:00 Uhr