Fallende Pegel, versunkene Zukunft - Eine Oder-Reise von der Quelle bis zur Mündung

Anmoderation:

PATRICIA SCHLESINGER:

Überschwemmtes Land © picture-alliance/OKAPIA KG Foto: Michael Breuer

"Die neue Abwehrschlacht im Osten ist siegreich geschlagen, Deutschland hat die Oder-Front verteidigt" - und alle freuen sich über solche Schlagzeilen. Auch bei uns geht's noch mal um das Hochwasser. Positiv sind Imagegewinn und neue Sinnstiftung für unsere von Feindlosigkeit, Langeweile und Selbstzweifeln bedrohten Soldaten. Und eine Spendenflut: Die Welle der Hilfsbereitschaft wird die Folgen des Hochwassers für die Menschen an der Oder hoffentlich mildern. Und jetzt wird natürlich auch noch ein wenig gedichtet und stilisiert, der verspätete Mythos der Nation, der endlich vollzogenen deutschen Einheit in der Not, herbeigeschworen. Bei uns ist - hoffentlich - das Schlimmste überstanden, aber unsere Nachbarn in Polen und Tschechien sind - und das ist fast unvorstellbar - noch schwerer von den Wassermassen betroffen.

Eine Oder-Reise von der Quelle bis zur Mündung
Panorama zeigt 1997 einen Stimmungsbericht aus Deutschland nach dem Sinken der Pegelstände an der Oder.

Meine Kollegen haben gestern und heute die Oder bereist, von der Quelle bis zur Mündung. Sie schildern die Stimmung bei uns und unseren Nachbarn.

KOMMENTAR:

So schön kann es nah am Katastrophengebiet sein. Der Ostseestrand bei Ückermünde. Fünfzig Kilometer entfernt fließt die Oder ins Meer. Eine Giftkatastrophe durch die Flut haben Boulevardblätter vorausgesagt. Aber hier beschäftigt man sich lieber mit Sandburgen statt mit Sandsäcken. Urlaubs- statt Untergangsstimmung. Doch selten konnte man an der Ostsee so viele einsame Spaziergänge machen. Viele Urlauber sind aus Angst vor verseuchtem Wasser nicht angereist. 900 Kilometer weiter südöstlich nahm das Unheil vor sechs Wochen seinen Lauf. Wir beginnen eine Reise von der Oder-Quelle bis zur Mündung, über sieben Stationen.

In Ostrau in Tschechien beginnt unsere Reise. Ein kleines Bächlein im Altvatergebirge. Die Oder - wir sind an der Quelle der Jahrtausendflut. Nach nur zwanzig Kilometern ist die Oder schon ein richtiger Fluß, heute ganz friedlich, denn die Flut ist hier seit Wochen vorbei. Der Grund für die schnelle Vergrößerung: die vielen Zuflüsse in die Oder. Schnell wird sie ein reißender Strom, selbst heute. Vor gut vier Wochen, als es hier sintflutartig regnete, riß der Fluß in wenigen Stunden alles in seiner Nähe mit. Erste Zerstörungen keine fünfzig Kilometer von der idyllischen Quelle entfernt.

Dann die erste große Stadt an der Oder: Ostrau. Viele Häuser sind völlig zerstört. "Es ist uns nichts geblieben," sagt die Frau, "Wir haben neun Jahre daran gebaut. Mein Gott, wie soll das weitergehen." Ihr Haus muß abgerissen werden. "Wollen Sie ins Altersheim," fragt die Ortsbürgermeisterin, "Sie könnten sich da noch eingewöhnen, Sie können ja noch gut laufen." "Ja, ja, das kann ich noch, ich würde im Garten arbeiten. Bewegung tut gut, wenn der Mensch einmal sitzen bleibt, ist es aus."

Zwei Wochen lang standen die Häuser hier unter Wasser, manche schwammen sogar. Die Ortsbürgermeisterin Ludmila Haskova organisiert gerade Mückenschutzmittel. Sie hat die schwere Aufgabe, vielen Mitbürgern den Abrißbeschluß zu vermitteln. Besonders die alten Häuser aus Ziegelstein, die bis zum Dach unter Wasser standen, werden bis zum Winter wohl nicht mehr trocken. Dann frieren die Mauern und können geradezu gesprengt werden. Ein Wettlauf mit der Zeit, besonders, weil diese Woche die Soldaten abrücken. Jetzt sollen Arbeitslose ran.

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LUDMILA HASKOVA: (Übersetzung)

(Ortsbürgermeisterin in Ostrau)

"Wenn die Arbeitslosen sich weigern, bekommen sie kein Arbeitslosengeld. Sie haben also die Wahl: Arbeit hier oder kein Geld."

KOMMENTAR:

Diese Woche tagte der Krisenstab von Ostrau zum letzten Mal. Hauptproblem neben dem Ersatzwohnraum ist immer noch die Gesundheit. Auch wir finden Umweltverschmutzung. Diese Raffinerie wurde vollständig überflutet. Die meisten Tanks platzten, 400 Tonnen Öl liefen ins Wasser.

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MANN: (Übersetzung)

"So sieht das Büro unseres Generaldirektors aus. So sehen alle Büros hier aus."

KOMMENTAR:

Rund siebzig Kilometer flußabwärts. Wir kommen nach Kosel in Polen. Wir wollen schauen, was aus dem Oder-Hafen geworden ist. Je näher wir kommen, desto deutlicher die Spuren der Verwüstung. Dann ist plötzlich Endstation. Wir kommen nicht weiter. Kurz vor dem Hafen ist eine Brücke eingestürzt, gerade mal ein Jahr war sie alt. Das Oder-Nebenflüßchen ist hier drei, vier Meter breit und hat trotzdem Schäden wie nach einem Bombenangriff hinterlassen. Von ihrem Fenster aus erlebte Stanislawa Matyia Eckert die Katastrophe.

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STANISLAWA MATYIA ECKERT: (Übersetzung)

"Hier neben der Brücke stand ein Kiosk. Der Verkäufer ist gerade mal mit einer Tasse Kaffee vor die Tür getreten. Als er sich umdrehte, war der Kiosk weg."

KOMMENTAR:

Wir müssen warten, bis die Behelfsbrücke geteert ist. Dann können wir mit unserem Kamerawagen zum Hafen der Binnenschiffer fahren. Im Eingang des Hafenbüros liegen noch Akten zum Trocknen. Wir treffen den Hafenmeister Kristof Gwischdsch, er erzählt von der Katastrophe. "Sechs unserer Schiffe sind von dem Hochwasser auf der Oder überrascht worden," sagt er. Die Boote stecken auf dem Fluß fest, er wisse nicht, in welchem Zustand sie seien. Bis September, so erzählt Kristof Gwischdsch, sei die Oder für Schiffe wohl noch gesperrt. Dennoch nimmt er uns ein Stück mit hinaus. Aber nur bis dort hinten, so zeigt er, dürfe er mit uns fahren, weiter hinaus sei es zu gefährlich, die Fahrrinne sei nicht getestet. Und hat sich der Lauf der Oder verändert durch das Hochwasser, wie Ökologen sagen?

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KRISTOF GWISCHDSCH: (Übersetzung)

"Im Fernsehen habe ich so etwas gehört. Die Oder und ihre Nebenflüsse sollen teilweise ihr Flußbett verlassen haben. Aber mittlerweile sind sie wieder in die alten Bahnen zurückgekehrt."

KOMMENTAR:

Wir fahren 130 Kilometer weiter nach Kottowitz. Es ist eines der Dörfer kurz vor Breslau, die ganz versunken waren. Das Wasser steht hier immer noch. Trotzdem kehren die Ersten zurück. Sie schauen sich an, was von ihrer Heimat übrig blieb. Für jedes überflutete Haus will die Regierung 3.000 Zloty zur Verfügung stellen, etwa 1.700 Mark - viel zu wenig, um noch einmal von vorn anzufangen. Einige versuchen es trotzdem, irgendwie.

Das Eckhaus an der Dorfstraße gehört Tadeusz Pecyna. Er ist 69 Jahre alt. Seit Tagen schippt er Sand, um das Wasser zu verdrängen. Heute scheint die Sonne. Frau Pecyna kümmert sich um die verschmutzten Kleider. Vielleicht werden sie heute trocken, dann können sie endlich verbrannt werden. Tadeusz Pecynas Neuanfang. Nur für seinen Sohn aus Breslau reißt er sich zusammen, sagt er.

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TADEUSZ PECYNA: (Übersetzung)

"Ich wollte nicht auf Hilfe von den offiziellen Stellen warten. Das wäre wohl auch zwecklos gewesen. Also habe ich angefangen aufzuräumen. Sogar die Fußböden mußte ich rausreißen, denn es war alles verseucht. Die nassen Sachen wegschmeißen, alle Möbel raus. Mehr kann ich nicht sagen, es macht mich doch zu traurig."

KOMMENTAR:

Im Nachbardorf Siechnice ein ähnliches Bild, ein verlorener Ort. Auch ein einzelner Müllwagen bringt das nicht wieder in Ordnung. Überall Schlamm, und der stinkt nach Moder. Viele Häuser stehen noch leer. Diese Hunde wurden zurückgelassen, sie schützen Häuser vor Plünderern, die nur noch Ruinen sind.

Unten an der Straße kämpft Eugeniusz Rzeczkowski gegen den Dreck. Seine Frau harkt das einst grüne, jetzt verfaulte Gras. Eugeniusz Rzeczkowski führt uns in den Stall. Er hat alle Tiere verloren, erzählt er.

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EUGENIUSZ RZECZKOWSKI: (Übersetzung)

"Ich hatte auch ein Pferd. Es ist elendig ertrunken, genau hier. Ich konnte mein Pferd nicht retten. Es ist mir nur ein Huf geblieben, als Andenken. Bis hierhin stand das Wasser. Das war eine große Tragödie. Ich habe gedacht, ich überlebe es nicht. Ich war dann drei Tage im Krankenhaus. Die haben mich ein bißchen repariert. Aber das allein hilft auch nicht mehr."

KOMMENTAR:

Die Nachbarn des alten Mannes sitzen im Hof auf den klammen Couchmöbeln ihres untergegangenen Wohnzimmers. Einer der Nachbarn ist Boleslaw Salaj, er ist 42 Jahre alt. Im Haus zeigt er uns, daß nicht einmal mehr die nackten vier Wände sicher stehen. Die Feuchtigkeit hat das Mauerwerk bersten lassen. Eigentlich ist Boleslaw Salaj Schweißer, aber in welcher Fabrik soll er jetzt Arbeit finden, fragt er.

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BOLESLAW SALAJ: (Übersetzung)

"In der Fabrikstraße wohnen sehr viele alte Menschen. Die sehen keinen Sinn mehr darin, weiterzuleben. Deshalb glaube ich, nach der Flut überschwemmt die Leute jetzt wieder eine todbringende Welle. Die Menschen halten dieses Elend nicht aus. Sie werden alle verrückt, mein Freund zum Beispiel..... Kommen Sie, wir gehen lieber wieder raus."

KOMMENTAR:

Nur wenige Kilometer weiter, am Deich von Lany, treffen wir einen glücklicheren Mann. Ryszard Wychudski und die anderen Dorfbewohner haben ihre Häuser erfolgreich gegen die Flut und die Regierung verteidigt. "Die Polizei hat unsere Leute von einem Teil des Deiches ferngehalten," berichtet er. "Wir wußten zuerst gar nicht, was da vorgeht. Später haben Soldaten Sprengsätze in den Deich gesetzt. Das war dahinten, da, wo die Folie zu sehen ist. Fünf bis sechs Hubschrauber flogen auf das Dorf zu. Einer flog den Deich entlang und hat Knallkörper abgeworfen, um die Leute in Panik zu versetzen und sie vom Deich zu vertreiben."

Doch sie blieben, der Deich konnte nicht gesprengt, das Dorf nicht geflutet werden. Lany wollte kein Bauernopfer für Breslau sein.

Zwanzig Kilometer weiter, Besuch in der Metropole. Jeden Morgen schaut Janina Kobryn aus dem Fenster und sieht, wie der Berg vor ihrer Haustür wächst und wächst.

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JANINA KOBRYN: (Übersetzung)

"Jeden Tag wird es mehr. Seit zwei Wochen kommt immer mehr Müll und Abfall. Keiner transportiert das alles ab."

KOMMENTAR:

Unten im Hof räumen Janinas Nachbarn die Keller leer. Seit der Flut ist der Müll Breslaus großes Problem. Verdreifacht hat sich die tägliche Hausmüllmenge, ganz zu schweigen vom Sperrmüll.

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JANINA KOBRYN: (Übersetzung)

"Ich muß das ganze Zeug rausräumen, es muß weg. Das muß man doch machen, wenn alles so stinkt hier."

KOMMENTAR:

Zbigniew Kopaczynski ist dieser Tage ein gehetzter Mann. Er ist der Chef der städtischen Müllbehörde, soll das ganze Chaos lichten. Wir dürfen ihn begleiten. Vorbei geht die Fahrt an Dutzenden wilder Deponien mitten im Stadtgebiet. Kopaczynski sucht dringend neue Abladeplätze. Schon wird von drohenden Epidemien gesprochen und davon, daß sich die Ratten ausbreiten. Die städtische Mülldeponie ist geschlossen. Sie ist nur wenige Meter von der Oder entfernt, die Flut hat sie mit überschwemmt. Gift von hier, so fürchten Anwohner, hat mit dem Hochwasser auch die Böden der Umgebung verseucht. Dreckige Pfützen stehen heute noch auf dem Platz.

Direktor Kopaczynski ist kurz vorm Ziel. Ein noch überflutetes Industriegebiet, wenige Kilometer von der alten Deponie entfernt. Ein idealer Platz, findet Kopaczynski, und will den ganzen Müll herbringen lassen. Aber auch dieser Müllplatz liegt direkt an der Oder, und die Anwohner laufen Sturm. An der Zufahrtsstraße zur neuen Deponie patroulliert die Polizei. Diese Dorfbewohner haben angedroht, jeden ankommenden Müllwagen hier zu blockieren. Der Standort der Deponie sei hochwassergefährdet, auch Deutschland werde die Folgen spüren.

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MANN: (Übersetzung)

"Der Müll wird bis in die Ostsee schwimmen. Es gibt Untersuchungen, daß schon durch das jetzige Hochwasser die Böden hier vergiftet wurden. Die Schwermetallgrenzwerte sind enorm überschritten. Bis um das Zweihundertfache haben wir hier an Blei und Cadmium. Das sind die schlimmsten Werte, die man sich vorstellen kann. Wir haben Angst um unsere Gesundheit. Wir schützen unsere Höfe und Felder, aber wir schützen auch die anderen Städte an der Oder."

KOMMENTAR:

Die städtischen Experten sehen das anders. Der Platz ist sicher, sagt Zbigniew Kopaczynski, und die Not ist groß.

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ZBIGNIEW KOPACZYNSKI: (Übersetzung)

"Wir haben nur die Alternative, entweder den Müll in der Stadt zu lassen oder ihn unter Polizeischutz herbringen zu lassen."

KOMMENTAR:

Aber in der Stadt ist der Zustand unerträglich. So wird die Deponie wohl in Betrieb gehen, auch wenn die Ökologie auf der Strecke bleibt.

Hier, an der deutsch-polnischen Grenze, wo Oder und Neisse zusammenfließen, liegt Ratzdorf. Wir fahren in den Ort, der in Deutschland als erster gegen die Flut kämpfen mußte. Langsam glauben die Menschen hier, daß die Gefahr vorüber ist. Die schweren Stunden sind vorbei, meint Pfarrer Andreas Althausen - die schwersten aber kommen erst jetzt. Viele Menschen müssen von vorn anfangen. Dieser Hof war noch vor wenigen Tagen völlig überflutet. Bei Erika Herke stand das Wasser über zehn Zentimeter hoch in der Stube. Verzweifelt schaffte die Bäuerin alles ins Trockene, was sie tragen konnte. Der Pfarrer hat ihr heute Bilder mitgebracht, die Kinder ihm geschickt haben. Sie sollen den Ratzdorfern Mut machen, Mut für den Wiederaufbau.

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ERIKA HERKE:

"Wenn man erst anfängt zu weinen, dann wird man ganz und gar kaputt, und das kann ich mir nicht erlauben. Was soll denn dann erst werden?"

INTERVIEWER:

"Sie haben die ganze Zeit gekämpft gegen das Wasser hier."

ERIKA HERKE:

"Und bloß immer geguckt, ob es nicht bald abnimmt."

KOMMENTAR:

Das Wasser fließt ab, zurück bleiben stinkender Schlamm und ein kaputtes, aufgeweichtes Haus. Auch als das Wasser noch hoch im Dorf stand, hat Pfarrer Althausen mit seiner Gemeinde gekämpft, mit Sandsäcken und Gebeten.

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ANDREAS ALTHAUSEN:

(Pfarrer)

"Es waren viele Gebete, aber keine kunstvollen oder theologisch überfrachteten Gebete, sondern ganz einfache Dinge, an denen man sich festhalten kann, ganz konkrete Sachen, Stoßgebete zum Himmel wie zum Beispiel: Wir brauchen Hitze, es möge windiger werden, der Pegel soll sinken, die Deiche sollen halten. Und die Gebete sind erhört worden."

KOMMENTAR:

Gebete allein aber hätten der Flut wohl kaum getrotzt. Bundeswehr und Helfer hatten Ratzdorf geradezu in eine Sandsackburg verwandelt. Nur wenige Häuser liefen richtig voll. Jetzt wird langsam abgerüstet. Vor dem Dorf eine Sondermülldeponie. Ein giftiges Gemisch aus Jute, Sand und Oder-Schlamm.

Am schlimmsten traf es in Ratzdorf die Familie Budrus. Hier haben sie erst vor einem Jahr gebaut, und jetzt ist fast alles verwüstet. Das Wasser stand auch innen über vierzig Zentimeter hoch. Der Pfarrer hat für sie eine neue Küche, gespendet von einer Kirchengemeinde - wenigstens etwas, ein Anfang.

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DORIS BUDRUS:

"Es wird nicht leicht werden. Sie haben ja, wenn Sie so ein Haus bauen, können Sie sich vorstellen, einen Kredit auf dem Hals, den müssen wir abzahlen. Dann können Sie sich keinen neuen nehmen, und dann kann der Staat noch so viel sagen, die Hilfen sind da. Bloß die Hilfen, die wir vom Staat kriegen, müssen wir alle wieder zurückgeben. Und mehr Kredit kann man sich nicht auf den Hals nehmen, das geht nicht."

KOMMENTAR:

Das große Aufräumen in Ratzdorf, es hat begonnen. Pfarrer Althausen zieht weiter durch die Gemeinde. Mut und Kraft werden die Menschen hier noch lange brauchen.

Dreißig Kilometer stromabwärts hat die Oder einen ganzen Landstrich verschwinden lassen. Die Ziltendorfer Niederung, zwei Wochen, nachdem die Dämme brachen. Hier wohnen die Menschen, die die Flut in Brandenburg am härtesten getroffen hat. Sie alle hoffen jetzt auf Fördermittel, Spenden und vor allem auf die Versicherung.

Wiesenau, Brieskower Straße. Mario Linke ist, wie es im Versicherungsdeutsch heißt, Schadenregulierer. Bei den Waldows stand das Wasser fast einen halben Meter hoch. Doch sie hatten Glück im Unglück: Als die alte DDR-Versicherung nach der Wende abgewickelt wurde, haben sie Hochwasser auch in die neuen Verträge aufnehmen lassen.

Die Liste der zerstörten Haushaltsgegenstände. Auch das ausgelaufene Heizöl wird erfaßt.

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FRAU WALDOW:

"Wieviel Öl hatten wir drin? 4.000 Liter?"

HERR WALDOW:

"4.700."

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MARIO LINKE:

(Schadenregulierer)

"Den Verlust des Öls kann in diesem Vertrag sogar als Hausratschaden mit entschädigt werden. Die Öltanks, die jetzt aufgeschwemmt worden sind - ich glaube, das ist hier in diesem Fall auch eine Tatsache - sind Gebäudeschäden, die auch mit in dem Gebäudevertrag gedeckt sind."

KOMMENTAR:

Was der Schadenregulierer nicht gerne sagt: Für den Umweltschaden kommt die Versicherung nicht auf.

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INTERVIEWER:

"Es sind doch die Verunreinigungen nicht mit versichert, durch Öl?"

MARIO LINKE:

"Das wäre - die Verträge, die ich hier zur Zeit bei unseren Versicherungsnehmern bearbeite, oder aus den Verträgen hier zur Zeit reguliert wird, beinhalten eine Regulierung oder eine Entschädigung des verseuchten Erdreiches nicht."

KOMMENTAR:

So erhalten die Waldows fürs erste nur zwei Schecks über 10.000 Mark für die zerstörte Einrichtung. Was die Entsorgung des verseuchten Erdreichs rund um ihr Haus angeht, müssen sie auf andere Unterstützung hoffen.

Einen Kilometer entfernt: Martin und Manuel begleiten ihren Großvater. Nur langsam gibt die Flut den Hof von Ewald Abraham wieder frei. Heute will er zum ersten Mal seit dem Deichbruch wieder sein Wohnhaus betreten. Das Wasser war gnadenlos. Auch bei den Abrahams ist Heizöl ausgetreten, wieviel, wird man erst sehen, wenn der Keller zugänglich ist. Ziltendorfer Stilleben: Grimms Märchen in Öl.

Im Wohnzimmer sieht es aus wie nach einem Erdbeben. Die nassen Polster sind nicht mehr zu gebrauchen. Die Stereoanlage ist gerade wieder trockengefallen. Nur die Wohnzimmeruhr tickt noch, als sei nichts geschehen.

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EWALD ABRAHAM:

"Also '45 war es besser, wo wir raus mußten, wo der Russe kam. Da hatten wir Zeit gehabt, da konnten meine Eltern den Wagen fertig machen, Sachen aufladen, Futter für ihre Pferde noch mitnehmen. Aber das hatten wir hier nicht gehabt."

KOMMENTAR:

Die Gläser von der Flucht stehen noch auf dem Küchentisch. Nach einer halben Stunde merkt Ewald Abraham: Hier ist nichts mehr zu retten. Bevor das Boot den Hof verläßt, will Herr Abraham noch einen Blick in die Scheune werfen. Dort spielt sich gerade ein kleines Drama ab: Eine junge Katze kämpft ums Überleben. Die Helfer können nicht riskieren, in die unterspülte Scheune vorzudringen, die Katze muß sich selber helfen.

Die Ziltendorfer Niederung am vierzehnten Tag der Flut. Die einen hoffen, die anderen haben Angst vor der Zukunft.

Wieder in Ückermünde an der Oder-Mündung. Wir treffen Olaf Holze. Den Hotelier hat die Flut voll erwischt. Mit bangem Blick verfolgt er die wöchentliche Überprüfung der Wasserqualität. Die Angst geht um vor erhöhten Schadstoffwerten. Doch obwohl die Flut das Haff erreicht hat - der Öko-Gau blieb bisher aus.

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MANN:

".... Jeder kann hier ohne Bedenken, ohne gesundheitliche Schäden hier baden."

OLAF HOLZE:

(Hotelier)

"Kann ich also meinen Urlaubern das ausrichten?"

MANN:

"Auf jeden Fall."

KOMMENTAR:

Gute Nachrichten, doch für Holze kein Grund zur Freude - trotz gerade gebauten Hotels. Jeden Tag kann er seine persönliche Flutkatastrophe sehen: Zimmer ohne Gäste. Viele Urlauber meiden die Oder-Region und somit das Hotel. Sein Existenzkampf hat begonnen.

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OLAF HOLZE:

"Jeder Gast, den brauche ich hier, also ich kämpfe hier um jeden Gast, und den brauche ich unbedingt. Und wenn im Prinzip so Negativrummel gemacht wird, dann ist das natürlich sehr schlecht."

KOMMENTAR:

Auch wenn das prophezeite Öko-Desaster Ückermünde noch nicht erreicht hat, sein Speisesaal wirkt in diesen Tagen überdimensioniert. Was Holze bleibt: viel Zeit für die Einzelbetreuung.

Abmoderation:

PATRICIA SCHLESINGER:

Hoffen wir, daß den Menschen dort schnell geholfen wird, und hoffen wir, daß unsere bürokratischen Mühlen da schneller mahlen als im folgenden Fall.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 07.08.1997 | 21:00 Uhr