Stand: 07.06.17 14:00 Uhr

Milliarden aus der Staatskasse: Die Steuerräuber

von Lutz Ackermann, Manuel Daubenberger, Philip Faigle, Karsten Polke-Majewski, Felix Rohrbeck, Christian Salewski, Oliver Schröm

Mehr als 30 Milliarden Euro sind verschwunden. Steuergeld, mit dem der Staat eine Menge Schulen und Brücken hätte sanieren können. Doch stattdessen kassierten Banken, Börsenmakler und Anwälte über Jahre das Geld, das dem Fiskus zugestanden hätte. "Es ist der größte Steuerskandal in der Geschichte der Bundesrepublik", sagt der Finanzwissenschaftler Christoph Spengel.

Milliarden aus der Staatskasse: Die Steuerräuber
Der Staat hat durch Tricks von Banken mehr als 30 Milliarden Euro verloren. Recherchen belegen 2017 das Ausmaß des Skandals.  

Spengel forscht an der Universität Mannheim. Für Panorama, ZEIT ONLINE und DIE ZEIT und hat er historische Finanzmarktdaten ausgewertet und den Schaden berechnet, der der Bundesrepublik seit 2001 entstanden ist. Das Ergebnis: Durch rein steuerlich motivierte Aktiengeschäfte rund um den Dividendenstichtag (sogenannte Cum-Cum- und Cum-Ex-Geschäfte) sind dem Staat mindestens 31,8 Milliarden Euro entgangen. 

Hochkomplizierte Geschäfte

Bei Cum-Cum-Geschäften hilft eine inländische Bank einem ausländischen Investor dabei, eine Steuerrückzahlung zu ergattern, auf die dieser keinen Anspruch hat. Der Gewinn wird aufgeteilt. Durch solche Cum-Cum-Deals sind dem Staat nach der Berechnung Spengels seit 2001 mindestens 24,6 Milliarden Euro entgangen.

Cum-Ex-Geschäfte sind damit verwandt, aber weitaus komplizierter. Die Besonderheit: Eine Steuer wird einmal abgeführt und mehrfach vom Fiskus zurückgefordert. Ein Netzwerk aus Banken, Beratern, Anwälten und reichen Investoren ließ sich also Steuern erstatten, die nie bezahlt wurden. Zwischen 2005 und 2012 entstand den Berechnungen von Spengel zufolge ein Schaden von mindestens 7,2 Milliarden Euro, also von durchschnittlich gut einer Milliarde Euro pro Jahr. "Der Schaden durch Cum-Ex-Geschäfte dürfte insgesamt noch höher liegen, da sie auch schon vor 2005 getätigt wurden", so Spengel. Erst 2012 wurde diese Geschäfte unterbunden.

Das Zentrum der Bande: London

Doch wie ist es Banken, Börsenmaklern und Anwälten gelungen, den Staat um Milliarden zu erleichtern? Und warum konnten Politik und Behörden dem Treiben über 25 Jahre lang keinen Einhalt gebieten?

Um diese Frage zu beantworten, hat ein Rechercheteam von Panorama, ZEIT ONLINE und DIE ZEIT ein halbes Jahr lang geheime Ermittlungsakten ausgewertet, darunter Transaktionstabellen, E-Mails, Kontoauszüge, Zeichnungsscheine, Durchsuchungsprotokolle und Aufzeichnungen von abgehörten Telefonaten. Reporter sprachen mit Staatsanwälten, Beschuldigten, Geschädigten, Whistleblowern, Wissenschaftlern und einem früheren Finanzminister. Sie reisten an die Orte des Geschehens, in die USA, in die Schweiz - und nach Großbritannien.

Luftaufnahme von London - Finanzdistrikt © picture-alliance/ dpa Foto: Dominic Lipinski 6144557

Eine Bande von nur einem knappen Dutzend Londoner Investmentbankern verursachte den Großteil des Milliardenschadens.

In London stießen die Reporter auf Spuren einer mutmaßlich kriminellen Bande von nur einem knappen Dutzend Investmentbanker. Sie haben wohl den Großteil des Milliardenschadens durch Cum-Ex verursacht. Mehrere Mitglieder der mutmaßlichen Bande sagen derzeit umfassend bei der Kölner Staatsanwaltschaft aus. Die Londoner Investmentbanker sprachen sich demnach bei Aktiengeschäften rund um den Dividendenstichtag hoch konspirativ ab. 

Mann in kurzen Hosen

Die Mitglieder des mutmaßlich kriminellen Netzwerks gaben sich gegenseitig so illustre Namen wie “der Mann in kurzen Hosen” oder "der Gentleman". Um nicht aufzufliegen, nutzten sie für jeden Handel ein neues Prepaid-Handy. Verbunden war die mutmaßliche Bande auch über ein nobles indisches Restaurant, das offenbar als eine Art Cum-Ex-Loge fungierte. Obwohl der Cum-Ex-Markt riesig gewesen sei, seien es "nur sehr wenige Personen gewesen, die die Fäden gezogen haben“, berichtete ein Insider Panorama, der ZEIT und ZEIT ONLINE. Die mutmaßliche Bande handelte nicht nur auf eigene Rechnung, sondern bot das Cum-Ex-Geschäft auch Dritten an.

Ermittlungen um den größten Steuerskandal der Bundesrepublik

Um welch riesige Summen es dabei ging, zeigt ein Beispiel aus dem Jahr 2011. Damals führte die Londoner Gruppe Aktientransaktionen für zwei Cum-Ex-Fonds des Luxemburger Fondsanbieters Sheridan durch, in die unter anderem Carsten Maschmeyer, Drogerie-Unternehmer Erwin Müller und Schalke-Boss Clemens Tönnies investierten. Panorama, DIE ZEIT und ZEIT ONLINE haben ermittelt, welches Ausmaß allein diese Geschäfte im Jahr 2011 hatten: Laut Ermittlungsakten handelten Londoner Broker allein für zwei Cum-Ex-Fonds rund um den Dividendenstichtag mit mehr als einer Milliarde deutscher DAX-Aktien im Wert von über 47 Milliarden Euro.

Im Fall dieser Fonds verwehrte das Bundeszentralamt für Steuern allerdings am Ende die Auszahlung mehrerer hundert Millionen Euro an Steuern und löste so die staatsanwaltlichen Ermittlungen um den größten Steuerskandal der Bundesrepublik aus.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 08.06.2017 | 22:00 Uhr