Stand: 26.07.12 11:20 Uhr

Nazi-Mord: Justiz wacht nach 68 Jahren auf

von Robert Bongen & Ralf Hoogestraat
mutmaßlicher NS Verbrecher Siert B. © Ralf Hoogestraat Foto: Ralf Hoogestraat

Siert B. soll 1944 an der Erschießung Aldert Klaas Dijkemas beteiligt gewesen sein.

"Geh mal eben pissen!", sollen sie zu ihm gesagt haben - um ihn dann auf freiem Feld hinterrücks zu erschießen. Der Fall der Tötung des festgenommenen holländischen Widerstandskämpfers Aldert Klaas Dijkema ist bis heute nicht aufgeklärt. Zwei Mitglieder des Sicherheitsdienstes (SD) sollen ihn im September 1944 in einer Nacht- und Nebel-Aktion im niederländischen Appingedam umgebracht haben.

Keine mordqualifizierenden Merkmale

Nach dem Krieg wurden sie von einem holländischen Sondergerichtshof wegen Mordes an Dijkema verurteilt. Einer von ihnen jedoch in Abwesenheit: Siert B. war bereits untergetaucht. Jahrzehntelang lebte er unbehelligt im sauerländischen Breckerfeld. Mitte der siebziger Jahre wurde er dort entdeckt. Die Staatsanwaltschaft Dortmund, die sich schwerpunktmäßig mit NS-Verbrechen befasst, nahm Ermittlungen gegen ihn auf - um sie dann im Fall Dijkema bald schon wieder einzustellen, "unter Verneinung mordqualifizierender Merkmale". Zwar wurde B. 1980 wegen eines anderen Verbrechens verurteilt - die Erschießung von Dijkema blieb aber ungeklärt.

Nazi-Mord: Justiz wacht nach 68 Jahren auf
2012 wurde das Ermittlungsverfahren gegen den mutmaßlichen NS-Kriegsverbrecher Siert Bruins wieder aufgenommen.

Kein Einzelfall: Jahrzehntelang bewertete die deutsche Justiz Erschießungen von Widerstandskämpfern wie im Fall „Dijkema“ nicht als Mord, also als Tötung aus Heimtücke, sondern maximal als Totschlag - und Totschlag verjährt. Die Folge: Viele Täter wurden nicht mehr zur Rechenschaft gezogen.

Neue Rechtslage

Im Jahr 2010 änderte sich das plötzlich: Der SS-Mann Heinrich Boere wurde in einem ähnlichen Fall vom Landgericht Aachen wegen heimtückischen Mordes verurteilt. Die Richter sahen alle nötigen Mordmerkmale erfüllt. Nachdem ein Historiker und ein niederländischer Journalist auf das Urteil hingewiesen hatten, nahm nun auch die Staatsanwaltschaft Dortmund ihre Ermittlungen im Fall Siert B. wieder auf - und vollzog eine Kehrtwende: Nun hält sie die Erschießung von Dijkema doch möglicherweise für einen Mord. Ihre Begründung: Die Rechtsprechung habe sich durch das Urteil in Aachen geändert.

mutmaßlicher NS Verbrecher Siert B. im Gespräch mit Robert Bongen © Ralf Hoogestraat Foto: Ralf Hoogestraat

Siert B. im Gespräch mit Panorama-Autor Robert Bongen.

Warum ist ein Mord fast 68 Jahre lang kein Mord - und plötzlich doch? Der gleiche Sachverhalt wird jetzt anders gesehen, obwohl sich am Gesetz nichts geändert hat? Die jahrzehntelange Umdeutung der Morde  von Widerstandskämpfern als Totschlag hatte nur eine Folge: Zahlreiche Täter wurden nicht verurteilt.

Panorama über die späte Einsicht der deutschen Justiz.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 26.07.2012 | 21:45 Uhr