Getarnt als Fernsehteam - deutsche Polizisten schossen in Luxemburg

von Bericht: Christiane Habnenicht, Christoph Lütgert

23 Kinder in der Hand eines geistig verwirrten Geiselnehmers. Er droht, den Kindergarten in die Luft zu sprengen, einzelne zu erschießen. Der Albtraum ereignete sich vor einem halben Jahr in Luxemburg. Eine Situation, die nach ungewöhnlichen Lösungen geradezu schreit. Alles tun, um das Leben der Kinder und Erzieherinnen zu retten, natürlich. Die Polizei verfiel auf eine Lösung, die trotz eines guten Ausgangs - alle Geiseln blieben unverletzt - manchen bis heute überaus fragwürdig erscheint.

Getarnt: Deutsche Polizisten schossen in Luxemburg
23 Kinder in der Hand eines Geiselnehmers: Luxemburg ruft Deutschland zur Hilfe. Das SEK greift ein, als Fernsehteam getarnt.

Gut ein halbes Jahr her: das nervenaufreibende Geiseldrama im luxemburgischen Grenzstädtchen Wasserbillig. In einem Kindergarten hat ein Geistesgestörter 23 Kinder und drei Erzieherinnen dreißig Stunden lang in seiner Gewalt. Der Gangster schien bereit, ernst zu machen. Hinter einem Fenster des Kindergartens zeigt er Handgranate und Pistole. Auch Benzinkanister soll er bei sich gehabt haben.

Für die Polizei des kleinen Luxemburg offenkundig eine Nummer zu groß. So rief der luxemburgische Premierminister Jean-Claude Juncker seinen Freund, den Regierungschef von Nordrhein-Westfalen, Wolfgang Clement, an, ob der nicht helfen könne.

Einzelheiten sollten geheim bleiben. Clement schickte seinem Freund Juncker fünfzig Männer des Sondereinsatzkommandos, SEK Düsseldorf, die in diesem Haus stationiert sind. Als wir die SEK-Zentrale vor drei Tagen nur von außen drehten, kamen sofort zwei Beamte in Zivil, um das zu unterbinden.

Am 1.Juni vorigen Jahres gab es ein gewaltiges Medienspektakel vor der Absperrung um den Kindergarten von Wasserbillig. Die Spezialisten von Düsseldorf kamen mit der Idee, das große Fernsehaufgebot beim Geiseldrama für sich zu nutzen. In Wasserbillig an vorderster Journalisten-Front der RTL-Reporter Vic Reuter. In einer Hauruck-Aktion wurden die RTL-Jacken seines Teams, Kamera und Tonausrüstung konfisziert und auch der rote RTL-Wagen mit dem Kennzeichen GU 664. Vergeblich protestierte Reuter - damals. Heute will er zu den Vorgängen nichts mehr vor der Kamera sagen, denn inzwischen ist er Sprecher der Luxemburger Polizei.

Aber so lief es damals ab: Scharfschützen haben den Kindergarten im Visiert. Drinnen wartet der Geiselgangster auf ein zugesagtes Fernsehinterview. Nach "Panorama"-Recherchen, die das NRW-Innenministerium aber dementiert, haben Düsseldorfer SEK-Männer sich inzwischen als RTL-Team verkleidet und fahren mit dem Auto des Kommerz-Senders vor.

Der ARD-Chefredakteur Hartmann von der Tann hat einen Erklärungsversuch: "Ich denke, dass angesichts des Stresses, der dadurch verursacht wird, wenn man weiß, dass da Kinder in Händen eines wahrscheinlich Irren sind, dass man da auf die absonderlichsten Ideen kommen kann. Aber man hätte nicht auf die Idee kommen dürfen, denke ich, Journalisten, die dort ihre Arbeit tun, ihres Arbeitsgeräts zu berauben und nunmehr dies als Deckung für die Polizei zu benutzen."

Der Informationsdirektor von RTL, Hans Mahr sieht die Sache auch eher problematisch: "Es ist ganz klar ein Fall, wo der Zweck nicht die Mittel heiligt. Die Journalisten sind dazu da, objektiv zu berichten, und dieser Möglichkeit, zu berichten, können sie nur nachkommen, wenn sie auch tatsächlich ernst genommen werden, wenn sie nicht verkappte Agenten von Polizei, Nachrichtendienst oder sonst etwas sind. Das heißt, von unserer Seite aus gibt es keinerlei Zusammenarbeit als Tarnung für die Polizei."

Doch die Aktion war ein Erfolg. Bei dem vorgetäuschten Interview wurde der Geiselgangster mit Kopfschuss niedergestreckt und alle Kinder konnten unversehrt gerettet werden.

Das nordrhein-westfälische Innenministerium, zuständig für das SEK Düsseldorf, aber mauert. Die Zusage, vorab schriftlich erbetene Fragen von "Panorama" zu Einsatz-Details vor der Kamera zu beantworten, wurde kurzfristig zurückgezogen.

NRW-Innenminister Fritz Behrens will sich nur allgemein äußern, läßt aber Distanz zum damaligen Geschehen erkennen: "Das ist sicher ein ganz schwieriger Grenzfall, eine Situation, die nur in ganz großen Ausnahmefällen des übergesetzlichen Notstandes, wie Juristen das bezeichnen, überhaupt denkbar ist und verantwortbar ist. Grundsätzlich halte ich es auch nicht für unproblematisch."

Hans Mahr sieht den "übergesetzlichen Notstand" so: "Immer dann, wenn es für die Polizei oder für Regierungen schwierig wird, dann wird übergesetzlicher Notstand ausgerufen. Das kann nicht rechtfertigen, dass das Leben von Journalisten in Gefahr gebracht wird."

Hartmann von der Tann sieht eine Gefährdung in der täglichen journalistischen Arbeit: "Denn das hat Konsequenzen, das hat Konsequenzen insofern, als die Kollegen nie mehr ungefährdet ihrer Arbeit nachgehen können und dass in Zukunft jeder Kriminelle in einem Journalisten, dessen er ansichtig wird, womöglich einen getarnten Polizisten vermutet und ihn entsprechend behandelt.

Hans Mahr: "Und dann möchte ich die Erklärung der Innenminister sehen, wenn es ein paar tote Journalisten zu beklagen gibt."

Polizisten als Fernsehleute zu tarnen, das hatte man in Nordrhein-Westfalen schon einmal versucht: 1988 beim Gladbecker Geiseldrama, als die Gangster mitten in einer Kölner Fußgängerzone stoppten. Auch das dementiert das Düsseldorfer Innenministerium. Zitat aus einem internen Polizeiprotokoll: "12.05 Uhr - Geiselgangster Rösner fordert die Anwesenheit eines Fernsehteams in spätestens 15 Minuten, sonst soll die Fahrt fortgesetzt werden. Weisung der Einsatzleitung Köln an Abschnittsleiter Objekt. SEK bereitet Zugriff als TV-Team vor."

Damals hatte es nicht geklappt. Die Gangster waren nervös geworden, wollten nicht mehr warten. Jetzt meint NRW-Innenminister Behrens: So was werde man wohl nicht mehr tun und meint: "Die Polizei muss auf schwierigste Einsatzsituationen vorbereitet sein, auch bei deutschen Einsätzen natürlich. Sie muss sich immer wieder fragen: Was ist technisch möglich, um Menschenleben zu retten, denn darum geht es letztlich. Das konkrete Mittel scheint mir nun verbrannt zu sein, um es so zu formulieren, das kann man nicht noch mal machen. Aber man muss natürlich darauf eingerichtet sein, in vergleichbaren Fällen auch zwanzig und mehr Kinder etwa aus der Hand von Geiselgangstern befreien zu können.

Beim nächsten Mal sind es dann Rotkreuzhelfer, der Arzt oder der Pfarrer. Nun ist die Menge der Möglichkeiten zum Beispiel im Falle einer Geiselnahme ja begrenzt. Die Polizei muss sich wohl auch um andere Ideen bemühen.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 11.01.2001 | 21:00 Uhr