Immer mehr Opfer durch braunen Terror - Der gescheiterte "Aufstand der Anständigen"

von Bericht: Ariane Reimers, Dietmar Schiffermüller, Volker Steinhoff

Es scheint so ruhig in Deutschland. Keine brennenden Asylbewerberheime, keine totgeprügelten Obdachlosen, keine Proteste, keine Empörung. Was war der Aufschrei groß im letzten Jahr. Zur Erinnerung: Damals gab es 330 rechtsradikale Gewalttaten, allein im ersten Halbjahr. Und dieses Jahr - nichts? Weil es so ruhig ist? Von wegen!

Immer mehr Opfer durch braunen Terror
Panorama berichtet 2001 über den Anstieg rechtsextremistischer Gewalttaten, der medial kaum Beachtung findet.

Nach Angaben des Bundesamtes für Verfassungsschutz waren es allein im ersten Halbjahr 2001 430 rechtsradikale Gewaltakte, mehr als im letzten Jahr. Aber dennoch - es ist ruhig in Deutschland. Der von Schröder ausgerufene "Aufstand der Anständigen" - verstummt. Kranzniederlegungen, Betroffenheitsfloskeln - leere Versprechungen. Das war's.

Wir haben nach dem "anständigen Aufstand" gesucht und doch wieder nur neue rechte Gewalt gefunden.

René überlebte nur durch Glück. Strasburg in Mecklenburg-Vorpommern vor ein paar Wochen. Sein Fehler war es, an an Garagentoren entlang zu laufen - in der Garage saßen Rechtsradikale. Hinter der Tür prügelten sie auf ihn ein, traten mit Springerstiefeln auf seinen Schädel. In letzter Sekunde konnte sich René retten.

"Nachdem wir ihn im Krankenhaus besucht haben", erzählt Liane Frenz, seine Mutter, "sagte der Arzt zu uns, dass es wirklich schon auf Messers Schneide stand, jeder Schlag mehr hätte ihn das Leben kosten können."

Die Täter gehören zur "Rassistischen Kameradschaft Strasburg". Bis heute laufen sie frei herum. Wo ist er geblieben, der "Aufstand der Anständigen"? Dazu Renés Vater Thomas Frenz: "So was gibt's hier gar nicht. Die Rechten laufen hier rum, schlagen Leute zusammen, und das schon über einen längeren Zeitraum. Sehen Sie sich unseren Sohn an, was passiert ist. Aufstand der Anständigen, was ist das? Das ist hier nicht."

Gleichgültige Bürger, prügelnde Nazis. Noch ein Opfer aus diesem Jahr: eine Grieche. Wie durch ein Wunder hat er überlebt. Münchener Skinheads hatten den Griechen vor einer Gaststätte schon fast totgeschlagen, als mehrere Türken ihm zu Hilfe kamen und so sein Leben retteten.

Einer der Helfer war Taner G.: "Ich habe eigentlich schon gedacht, er ist tot, nachdem ich ihn gesehen habe. Und von den Parolen her hätte man eigentlich auch denken können, dass die bis zum bitteren Ende weitergemacht hätten."

"Was haben die gerufen?"

"Sieg Heil, Scheißausländer, musst jetzt sterben, und: Stirb, Kanake, stirb", zitiert Taner G..

Von den deutschen Nachbarn kam keiner dem Griechen zu Hilfe. Sie hatten andere Sorgen, erzählt der Helfer: "An dem Abend gab's Leute, die haben von oben geschrien: Jetzt hört auf, wir wollen weiterschlafen, von den oberen Fenstern."

Der Kommentar von Paul Spiegel vom Zentralrat der Juden: "Aufgrund der Fakten, die ich täglich sehe, kann man nicht sagen, dass Minderheiten sich überall in Deutschland zu Hause fühlen können, sich überall in Deutschland sicher fühlen können. Leider ist es nicht so."

Keine Übertreibung. Die Agenturmeldungen eines Wochenendes im August:

Schwerin - Männer hetzen Hunde auf Ausländer

Magdeburg - Rechte greifen Wachleute an

Cottbus - Iranische Familie verprügelt und verletzt

Cham - Rechte stechen auf Asylbewerber ein.

Am Montag danach: Von den Meldungen findet sich in den Zeitungen so gut wie nichts. In FAZ und BILD nicht einmal Notizen, in der Rheinischen Post gerade mal eine Kurzmeldung.

Vor einem Jahr war das noch ganz anders: Rechtsextremismus - das Top-Thema. Empörung, Betroffenheit, Demonstrationen.

Und dann Schröders Appell am 4. 10.2000: "Wegschauen ist nicht mehr erlaubt. Was wir brauchen ist ein Aufstand der Anständigen."

Auch Prominente und Künstler mischten mit beim "Aufstand der Anständigen", viele Medien, viele Sponsoren. Damals plante Udo Lindenberg auch für diesen Herbst eine Tournee gegen rechte Gewalt. Doch inzwischen ist das schwierig - die Sponsoren springen ab.

Udo Lindenberg: "Wir brauchen Sponsoren, und das ist im Moment in der Tat ein bisschen schwierig. Es sind wieder andere Themen in den Medien - ein knutschender Verteidigungsminister oder vielleicht irgendwie eine Schmonzette mit einer Prinzessin in Norwegen - irgendein Quatschkram, was die Leute mehr vor der Nase haben als eben dieses Thema Rechtsradikalismus, wo sie sagen, wir kennen das schon. Und es ist halt nicht mehr so en vogue."

Das bayerische Wunsiedel in diesem Monat. Hier ist Rudolf Heß beerdigt. Erstmals seit zehn Jahren dürfen die Nazis wieder am Grab von Hitlers Stellvertreter aufmarschieren. Die Nazis sind wieder selbstbewusst. "Der Erfolg des heutigen Tages ist in mehrfacher Hinsicht zu sehen", sagt Christian Worch, einer der Neonazis. "Einerseits, dass wir uns juristisch durchgesetzt haben, andererseits, dass wir trotz der Kürze der Zeit eine solche Zahl von Demonstranten zusammenbekommen konnte, und selbstverständlich auch die ruhige, würdige Form unseres Auftretens hier in der Stadt Wunsiedel."

"Würdig" - in anderen Worten: kaum Proteste, keine Empörung. Und viele Einheimische aus Wunsiedel stört es keineswegs, dass in ihrer Stadt die Nazis ungestört marschieren.

"Demonstrieren Sie heute gegen die Neonazis," will der Interviewer wissen.

Die Passanten: "Ich? Ich schau' mir das alles an."

"Mir ist das gleich." - "Mich stört das nicht, endlich mal was los in der toten Stadt." - "Ist ja nichts dagegen einzuwenden, oder?" Nachfrage: "Das sind Neonazis."

Die Passantin: "Die tun mir doch nichts."

Normalität, ein Jahr nach dem "Aufstand der Anständigen" auch in Greifswald. Die NPD macht ein Kinderfest. Kein Protest - nur zufriedene Mütter: "Dass die auch so richtig ein bisschen was organisiert haben für die Kinder, das find' ich gut, toll."

"Warum nicht, können sie machen doch, dagegen haben wir ja nichts."

"Hauptsache, ich hab' 'ne Partei, die sich für Kinder einsetzt in dem Moment."

Weiden in Bayern, im vergangenen Jahr Ort von antisemitischen Vorfällen. Heute aber sei alles ruhig, beteuert der Bürgermeister Hans Schröpf:

"Heuer hat sich die Lage in der Stadt total beruhigt und normalisiert, so wie das Leben in der Stadt halt immer war. Und das Zusammenleben der Bürger, gleich woher sie kommen und zu welcher Konfession sie sich bekennen, ist völlig vorurteilsfrei und normal."

Der Interviewer fragt ihn: "Also in diesem Jahr gab es keine antisemitischen Anschläge mehr?"

"Es ist Ruhe eingekehrt in der Stadt."

Gabi Brenner von der Jüdische Gemeinde Weiden weiß dagegen:

"In diesem Jahr hat's allein drei rechte Übergriffe gegeben auf uns, also auf die Jüdische Gemeinde. Und außerdem hat's einige rechte Vorfälle auch in den anderen Bevölkerungskreisen gegeben."

Gabi Brenner bekam sogar Besuch vom Bundeskanzler - damals, vor einem Jahr. Er besuchte die jüdische Gemeinde, um seine Hilfe anzubieten. Gabi Brenner überreichte ihm einen Wunschzettel: "Seine Reaktion darauf war sehr positiv. Er hat auch zugesagt, das Ganze zu prüfen, und es wird scheinbar immer noch geprüft. Und bis auf ein paar Anrufe habe ich bisher nichts mehr gehört."

Im Kampf gegen rechte Gewalt allein gelassen ist auch Martin Dulig. Er besucht Schulen, klärt auf. Schröders Regierung versprach eine Ausweitung seines Projekts auf Ostdeutschland.

"Vor einem Jahr wurden ja nun vollmundig Versprechungen gemacht", erinnert sich Jugendarbeiter Dulig."Dass es losgehen kann, dass da Millionen zur Verfügung stehen, der "Aufstand der Anständigen". Wir erleben zur Zeit eher den Stillstand durch die Umständlichen. Ja, die Kohle kommt nie. Also wir warten und warten."

In Wozinkel in Mecklenburg-Vorpommern dauerte das Warten zu lange. Christian wurde gerade mal 13 Jahre alt. Vor drei Monaten kamen seine Eltern vom Einkaufen zurück und fanden ihren Sohn erhängt und verbrannt.

"Der Rauchmelder piepte fürchterlich", erinnert sich die Mutter. "Da bin ich rum. Ich denk', ich schau nicht richtig. Ich hab' erst gedacht, dass da eine Puppe hängt, dass uns einer einen Streich spielen wollte oder so was. Dann hab' ich geschrien, dann kam mein Mann sofort rein und meinte: Mensch, das ist Krischi. Dann ist er schnell hoch, hat ein Messer geholt, hat ihn abgeschnitten. Dann lag er da. Ich bin denn hier in die Waschküche, hier haben wir Wasser. Hab' ich den Eimer mit Wasser voll gemacht, dann haben wir erst mal gelöscht."

Christian starb an den Brandverletzungen. Auf der Treppe lag ein Brief, den die Mutter vorliest:

"An meine Freunde, Eltern und Bekannten. Das hier wird mein letztes Geschriebenes sein, weil ich mich erhänge. Mein Leben ist Scheiße, schlechte Noten, kaum Freunde. Hauptsächlich aber, weil mich die großen rechtsradikalen Arschlöcher in meiner Schule andauernd verprügeln."

Der Vater kann es nicht verstehen: "Was gehört dazu, sich so was dann selbst anzutun. Wie weit muss ich da irgendwie massivem Druck ausgesetzt gewesen sein, wenn ich als gesunder Mensch, nicht depressiv - das ist alles nachvollziehbar." - "Sich zu strangulieren und sich anzuzünden."

Opfer rechtsradikaler Gewalt - im vergangenen Jahr fanden sie breite Anteilnahme, auch vom Bundeskanzler. Heute das große Schweigen. Deshalb die Frage an den Bundeskanzler: Was ist aus seinem "Aufstand der Anständigen" geworden?

Gerhard Schröder reagiert nicht.

"Herr Bundeskanzler, nun sagen Sie doch mal was zum Aufstand der Anständigen." Gerhard Schröder winkt ab.

Da passt es gut ins Bild, dass uns das Bundesinnenministerium ohne Angabe von Gründen ein Interview zu diesen Schreckenszahlen verweigert hat.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 30.08.2001 | 21:00 Uhr