Absturz eines Machtmenschen - Die letzte Schlacht des Helmut Kohl

von Bericht: Mathis Feldhoff, Jochen Graebert und Nicola von Hollander

Anmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Zur Macht gehört eben auch - zumindest erst mal - die Interpretationshoheit und die Freiheit, sich so zu erinnern und zu verhalten, wie es am besten passt - oder? Das eklatanteste Beispiel für dieses Missverständnis ist Helmut Kohl. An diesem Mann haben sich schon so einige abgemüht, haben ihn gedeutet, ihn erklärt. Bücher wurden über das Phänomen, das Prinzip Kohl und sein höfisches System geschrieben. Kohl und wie er die Welt sah. Nun haben sein Politikverständnis, seine Amtsführung nicht nur die CDU, sondern die Bundesrepublik erschüttert und einer offenen Parteiverdrossenheit viel Raum gegeben. Das Versagen der CDU wird fast unweigerlich dem Staat und seinen Institutionen angelastet. Bleibt dieser Mann nun für die Geschichte der Nachkriegszeit ein Gigant oder ein ruchloser Täuscher, dem es nur um seine Macht und um deren Erhalt ging? Müssen die Kohl-Biographen die Geschichte umschreiben oder nur ihre Bücher?

Absturz: Helmut Kohls letzte Schlacht
Auch wegen seiner Haltung in der Parteispendenaffäre sinkt der Stern von Altkanzler Kohl, wie eine Biografie 2000 zeigt.

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KOHL-BIOGRAPHEN

KLAUS DREHER:

Die Partei, das war seine Ersatzfamilie. Er war immer so der Paterfamilias, als den hat er sich empfunden, fast mehr Pater als Patriarch.

KLAUS DREHER.

Sie war organisiert auf den Paten hin, sie war ausschließlich ausgerichtet und fixiert auf diesen dicken Mann da oben an der Spitze. Und er hat nach Belieben belohnt und gestraft.

JÜRGEN LEINEMANN:

Im Grunde sind die doch alle nur was durch ihn geworden. So sieht er das. Dieser ganze Bundestag, all diese Abgeordneten, die da rumspringen, ich glaube, er könnte Ihnen zu jedem einzelnen eine Geschichte erzählen, was er für die alles getan hat. Wenn der ihnen nicht das Geld für die Umgehungsstraße beschafft hätte da in Fulda, dann wäre der überhaupt nicht da. Und wenn er damals nicht mit dem ein gutes Wort eingelegt hätte beim Ministerpräsidenten, dann wäre der auch nicht da. Und der soll mal ganz ruhig sein, dem hat er das gemacht und das gemacht. Und so läuft das, und so empfindet er das auch. Und ich fürchte, so war es auch.

KARL HUGO PRUYS:

(ehem. CDU-Sprecher)

Die Partei kann ihm heute nichts mehr bedeuten, fürchte ich, weshalb er ja auch von sich aus, nachdem man ihm sozusagen den Titel des Ehrenvorsitzenden entzog, hat er seinen hingeschmissen. Das ist ganz bezeichnend, das ist eine Geste der Verachtung. Und er ist fertig mit der Partei oder will sagen, dass er fertig ist. Faktisch ist es ja auch so.

ALEXANDER GAULAND:

(ehem. CDU-Staatssekretär)

Helmut Kohls Machtprinzip beruht auf den persönlichen politischen Beziehungen, den persönlichen Freundschaften, im Sinne von politischen Freundschaften.

JÜRGEN LEINEMANN:

In dieser internationalen Szenerie der Staatsmänner, die ja auch so eine Art geschlossener Club sind, da hat der so eine Kegelclub-Mentalität eingeführt. Und das haben die mit Faszination erlebt und sind alle drauf angesprungen. Die Vorstellung, dass mal ein deutscher Bundeskanzler ins Oval Office geht und zu dem dortigen Präsidenten sagt: Komm, Bill, wir gehen jetzt zum Italiener, da vorn an der Brücke, und essen mal anständig - und der geht mit Begeisterung mit, das war undenkbar früher. Das hat der Kohl fertig gekriegt.

INTERVIEWER:

Was bedeutet Freundschaft für Helmut Kohl in der Politik?

KARL HUGO PRUYS:

Er hat immer behauptet, dass sie ihm viel bedeutet. Ich fürchte, das, was er damit meint, verdient den Namen Freundschaft nicht. Also Schreckenberger beispielsweise, manche nennen auch Blüm, das sind keine Freundschaften, das sind Gefolgschaften, die Kohl zum Teil weidlich ausgenützt hat.

ALEXANDER GAULAND:

In dem Moment, wo Sie kritische Einwände haben, ja sogar, wenn Sie nur aus seinem Kreis heraustreten, um eine andere Aufgabe anzunehmen, empfindet er das als Verrat.

ALEXANDER GAULAND:

Ich glaube, dass er von Schäuble und Frau Merkel nichts hält. Es geistern ja auch durch die Presselandschaft Sätze wie: Der kann es nicht und: Das Mädchen kann es auch nicht.

INTERVIEWER:

Akzeptiert Kohl das Verhalten der Aufklärer, Schäuble, Merkel?

JÜRGEN LEINEMANN:

Ich glaube das nicht, ich glaube, dass er sie verachtet. Schäuble mehr, weil er ein Schwachmann ist und, wie er glaubt, einer, der klein beigibt gegenüber den Medien, dem man’s immer zeigen muss. Und diese Art von Chuzpe vermisst er an Schäuble ganz sicherlich. Und bei Merkel ist es ganz eindeutig, dass er die für total undankbar hält. Die ist Verräterin.

KARL HUGO PRUYS:

Er sagt immer, das sind Subjekte. Also, alle Leute, die ihm nicht geheuer waren, die ihm nicht gefielen, die ihm zutiefst zuwider waren - und er entscheidet ja, wer ihm zuwider ist, das ist keine reine Geschmacksfrage bei ihm, sondern der hat sich sozusagen abgesetzt. Das ist ein Subjekt, pflegt er dann zu sagen.

INTERVIEWER:

Hält er sie für Verräter?

KLAUS DREHER:

Naja, Verräter ist vielleicht übertrieben, er hält sie für Kleingeister, die sich bei dem leisesten Windhauch davonmachen.

KLAUS DREHER:

Ich nehme an, dass er sich so sieht, wie er sich eigentlich immer gesehen hat. Er ist so wie der Gulliver, der große schwarze Riese, um ihn herum wimmeln Zwerge, die unfähig sind, seine ungeheure Dimension, seine gewaltige Größe zu erkennen.

ALEXANDER GAULAND:

Es gibt irgendeinen Punkt, an dem er den Boden unter den Füßen verloren hat. Es gibt im alten Rom den berühmten Sklaven, der vor allen Triumphzügen, die also einem Sieger in einer Schlacht in Rom gewährt wurden, vorherfuhr und der, nur lesbar für ihn, dieses Schild hält: Bedenke, dass du ein Mensch bist. Und das ist bei Helmut Kohl offensichtlich nicht mehr der Fall, dass er das bedenkt.

KLAUS DREHER:

Das Trotzige, das hat er schon als Kind gehabt. Im Grunde, denke ich oft, Helmut Kohl ist nie wirklich erwachsen geworden. Irgendwann hat er sich, wie der Matzerath bei Günter Grass, geweigert, weiter zu wachsen. Er ist irgendwo immer der kleine, trotzige Bub gewesen. Er ist eigentlich immer - in diesem seltsamen Kosmos Kohl hat er gelebt, in einer vollkommenen Ich-Welt.

KARL HUGO PRUYS:

Kohl hat immer klar gemacht: Herr im Haus bin ich. Und wer dieses als vordemokratische Grundeinstellung kennzeichnen möchte, dem würde ich nicht widersprechen.

JÜRGEN LEINEMANN:

Und nun ist er auf einmal nicht mehr Kanzler und sagt aber immer noch, wie der die Dinge sieht und wie man die sehen muss. Und auf einmal ist es wie mit "Des Kaisers neue Kleider" - die Leute merken jetzt auch - was er vielleicht am wenigsten merkt -, dahinter ist kein Kanzleramt mehr, und was für ein Quatsch, was redet der da eigentlich.

KLAUS DREHER:

Er hat immer etwas anders getickt als andere Leute. Und er hat sich immer nur nach sich gerichtet. Sein Maßstab ist immer Helmut Kohl gewesen. Und er ist immer eigensinnig und stur gewesen.

KARL HUGO PRUYS:

Seit vielen Jahren hat sich mir der Eindruck aufgedrängt, dass er, wie jemand das aus seiner unmittelbaren Umgebung aus dem Kabinett mal ausgedrückt hat, dass er von der Rolle sei. Das ist ja ein populärer Ausdruck dafür, dass jemand offensichtlich an Realitätsverlust leidet. Diese Tendenz hat sich in den letzten Wochen rasant verstärkt.

JÜRGEN LEINEMANN:

Ich finde es ein bisschen beängstigend, weil - der wäre ja noch genau so, wenn er noch mal wieder gewählt worden wäre. Der war auch schon davor so. Die reden jetzt alle über Staatskrise, und jetzt wäre eine Staatskrise - jetzt ist eine Staatskrise zu Ende.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 10.02.2000 | 21:15 Uhr