Kinder statt Inder - Die Parolen eines gescheiterten Zukunftsministers

Anmoderation

CHRISTOPH LÜTGERT:

Jürgen Rüttgers (CDU) kneift die Lippen aufeinander. © dpa-Bildfunk Foto: Jochen Lübke

Wir hatten zwar kürzlich wieder die CEBIT, die größte Computermesse der Welt in Hannover, ansonsten aber ist der Industriestandort Deutschland computermäßig ein Entwicklungsland. So wirkt der Vorschlag von Bundeskanzler Schröder vernünftig, zur Linderung des schlimmsten Personalmangels in Zukunftsbranchen 20.000 Computerexperten aus dem Ausland - etwa aus Indien - zu uns zu holen. Die Industrie ist begeistert, doch Unions-Politiker machen gegen die Experten von draußen mit ausländerfeindlichen Ressentiments mobil - wohl in seliger Erinnerung, wie schön das doch bei der Hessen-Wahl mit der Anti-Ausländer-Kampagne geklappt hatte. Ideologisch besonders verquer und perfide der CDU-Spitzenkandidat für die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, Jürgen Rüttgers. Gerade der Mann hat offenkundig einen Komplex, kompensiert seine unbewältigte Vergangenheit, meinen Edith Heitkämpfer und Volker Steinhoff.

KOMMENTAR:

Ein Christdemokrat im Wahlkampf. Jürgen Rüttgers hat sein Thema entdeckt: Kinder statt Inder. So will er den akuten Mangel an Computerexperten beseitigen.

Kinder statt Inder: Parolen des gescheiterten Zukunftsministers
Der Industriestandort Deutschland ist im Jahr 2000 computermäßig Entwicklungsland. Jürgen Rüttgers und der Informatiker-Mangel.

0-Ton

JÜRGEN RÜTTGERS:

(CDU-Kandidat NRW, 10. März 2000)

"Mit dem Wort, dass es richtiger ist, unsere Kinder an die Computer zu bekommen, statt jetzt Inder, die eine Computerausbildung schon haben, aus den Ländern der Dritten Welt hier zu uns zu holen, mit dieser Aussage, finde ich, beschreibt man den Zustand richtig."

KOMMENTAR:

Jürgen Rüttgers vor fünf Jahren. Damals in der Regierung Kohl nannte er sich "Zukunftsminister" und kündigte Großes an:

0-Ton

JÜRGEN RÜTTGERS:

(April 1995)

"Ich stehe dafür, dass dieses Land sich auf Zukunft ausrichtet, ein Signal zu setzen, dass wir in Deutschland den Willen haben, uns auf Hightech zu konzentrieren. Und wir müssen jetzt entscheiden, was wir morgen wollen, statt irgendwann einmal festzustellen, dass wir wieder einmal fünf nach zwölf haben."

KOMMENTAR:

Immerhin: der Zukunftsminister lernte tatsächlich, ein E-Mail zu schreiben. So weit brachten es in seiner Regierung nur wenige. Sein Chef etwa ging davon aus, dass es beim Ausbau der "Datenautobahn" um das Beseitigen von Schlaglöchern auf deutschen Straßen ginge.

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FRAGE:

"Herr Bundeskanzler, für unsere Zukunft brauchen wir weltweit erfolgreiche Zukunftsindustrien. Ich denke, daß Herr Clinton in den USA das erkannt hat und dass er sich aus genau diesem Grund auch ganz persönlich vor den Bau der Datenautobahn stellt. Was tun Sie für die deutsche Datenautobahn?"

HELMUT KOHL:

(RTL, März 1994)

"Ja, da sind wir ja mitten in der Diskussion, das weiß ja hier kaum einer besser als Sie. Und Sie wissen auch, wie heftig umstritten das ist. Die Zukunft läuft in diese Richtung. Aber wir brauchen dafür Mehrheiten. Und wir sind ein föderal gegliedertes Land, und Autobahnen sind elementar auch - mit Recht - in der Oberhoheit der Länder. Der Zustand, den wir jetzt auf den Autobahnen haben, ist dergestalt, dass wir wissen, wann wir überhaupt nur noch von go und stop auf Autobahnen reden können."

KOMMENTAR:

Schon damals kam bei der Computerindustrie erste Verzweiflung über die Regierung Kohl auf. Seit Beginn der neunziger Jahre beklagte die Branche Nachwuchsmangel. Verzweifelt gesucht wurden Computerexperten, Bonn habe den Anschluss verpasst. Auch PANORAMA wies in der Kohl-Zeit auf den Expertenmangel hin.

0-Ton (PANORAMA, Mai 1998)

HANS-ERICH VONDERHEID

(Firma "Talkline")

"Wir suchen speziell im Bereich EDV im Moment in Kontinenten wie Afrika, Asien und sogar Australien, dort schalten wir beispielsweise Anzeigen, eigene Anzeigen in der Indian Morning, wir schalten Anzeigen im Sidney Morning, also in ganz exotischen Anzeigen, weil wir einfach in Deutschland den Bedarf nicht mehr decken können."

KOMMENTAR:

Manche Unternehmen gaben schon damals auf und begannen ganze Betriebsteile ins Ausland zu verlegen. Die Lufthansa etwa lässt seit 1992 ihre elektronische Ticketverarbeitung in Indien erledigen. Auch SAP und die Deutsche Bank haben dorthin ausgelagert.

Zukunftsminister Rüttgers kündigte derweil weiter vieles an, während sein Etat ständig schrumpfte und das meiste unmöglich machte.

Heute ist das Urteil der Experten über Rüttgers wenig schmeichelhaft, ob aus Softwarefirmen oder aus der Bundesanstalt für Arbeit.

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SIGMAR GLEISER:

(Bundesanstalt für Arbeit)

"Ich beobachte ja diesen Markt schon seit vielen Jahren, und das erste Mal habe ich in einer großen Zeitung 1994 darauf hingewiesen, dass der Informatiker-Arbeitsmarkt und der IT-Arbeitsmarkt wieder anspringt."

INTERVIEWER:

"Und wie war die Resonanz vom Zukunftsminister Rüttgers?"

SIGMAR GLEISER:

"Ich selber habe auf meine Berichte von dieser Seite keine Resonanz erhalten."

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ALEX BOJANOWSKY:

(Bundesverband Informationstechnologien)

"Aus meiner rückblickenden Sicht gesehen, muss ich sagen, hat Herr Rüttgers für mich diese Aufgabe und die Hoffnungen, die wir damals in ihn hineingesetzt haben, nicht erfüllt. Zum Thema ‚Informationstechnologische Fachkräfte‘ kam aus seinem Ressort nur ein denkbar geringer Beitrag."

0-Ton

GERT LANG-LENDORFF:

(Softwarefirma "Datenzentrale")

"Einige Dinge sind tatsächlich verpasst worden, wie zum Beispiel das Definieren des Ausbildungsweges, des Berufsbildes des Fachinformatikers. Wenn man dies bereits Anfang der neunziger Jahre gehabt hätte, dann hätte man da eine ganze Menge machen können."

KOMMENTAR:

"Kinder statt Inder"? Auch dem ehemaligen Zukunftsminister wird sein nicht sehr zukunftsträchtiger Vorschlag langsam peinlich. Er habe gar nicht als Computerexperte gesprochen, ist seine neue Botschaft. Es ging vielmehr um die Moral.

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JÜRGEN RÜTTGERS:

(CDU-Kandidat NRW)

"Das ist auch wieder ein Verstoß gegen die Menschenrechte. Wenn 10.000 Fachleute kommen, dann haben die das Anrecht darauf, mit ihren Familien, mit ihren Frauen und Kindern, mit ihren Männern zu kommen."

KOMMENTAR:

Der Brandstifter jetzt als Feuerwehrmann - alles nur zum Schutz der Ausländer. Das Gestern vergessen und auf in die Zukunft.

Abmoderation

CHRISTOPH LÜTGERT:

Man werfe uns jetzt bitte keine parteipolitische Einseitigkeit vor, denn schärfer als Lothar Späth, der Chef des ostdeutschen Technologie-Konzerns Jenoptik kann man es gar nicht formulieren. Was Rüttgers gesagt habe, sei der größte Schwachsinn, meinte Späth, ausgewiesenes und prominentes CDU-Mitglied.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 16.03.2000 | 21:00 Uhr