Die verschwiegenen Toten - Behörden vertuschen Ausmaß der rechtsradikalen Gewalt

von Bericht: Thomas Berndt und Volker Steinhoff

Anmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Ein Kreuz auf einem Friedhof © dpa-Bildfunk Foto: Maurizio Gambarini

Guten Abend.

Die Mehrheit in unserem Land ist sich einig: Den mordenden Glatzköpfen und den grölenden Mitläufern muss Einhalt geboten werden, mit allen Mitteln. Nur, mit wem genau haben wir es eigentlich zu tun? Welche Täter und welche Opfer sind bekannt? Eine wichtige Frage, denn zum Beispiel bemisst sich nach der Zahl der Toten für die Politik auch die Größe des Problems. Beginnen wir mit den Opfern. Über sie wird viel geredet und geschrieben. Und - es ist kaum zu fassen - da wird mit falschen Zahlen agiert, denn die Opfer-Statistiken werden ganz nach Belieben geführt, besser gesagt: geschönt.

Über Manipulation, Vertuschung und Schlamperei Thomas Berndt und Volker Steinhoff.

KOMMENTAR:

Hier sitzen die Buchhalter des braunen Terrors. Im Bundesinnenministerium werden rechtsextreme Morde zu Statistiken verrechnet, die Todeszahlen verwaltet. In der offiziellen Auflistung rechtsextremer Tötungsdelikte seit der Wiedervereinigung verzeichnet die Behörde genau 24 Tote. So steht es geschrieben, so ist es, ganz sicher.

Behörden vertuschen Ausmaß der rechtsradikalen Gewalt
Seit Jahren schönt das Bundesinnenministerium Statistiken über die tatsächlichen Todesopfer des Naziterrors.

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INTERVIEWER:

"Glauben Sie, dass das alle sind, oder gab es mehr?"

FRITZ RUDOLF KÖRPER:

(Staatssekretär Bundesinnenministerium)

"Ich kann jetzt nur einmal von der Statistik ausgehen. Ich hoffe und denke, dass das richtig erfasst ist, dass, was uns das statistische Material wiedergibt."

KOMMENTAR:

Doch die Zahl 24 ist falsch, das weiß nicht nur Noemia Lourenco. Ihr Mann wird in der Kategorie rechtsextremer Opfer einfach totgeschwiegen. Für die Witwe in Portugal nicht zu verstehen, denn die Mörder ihres Mannes ließen an der Gesinnung keinen Zweifel.

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NORBERT RÖGER:

(Staatsanwaltschaft Leipzig)

"Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme hat der Hauptangeklagte vor der Tat geäußert, Ausländer hacken zu wollen. In Tatausführung hat der Angeklagte mit Stahlkappenschuhen vielfach gegen den Kopf des Opfers getreten und es jeweils dabei knacken gehört."

KOMMENTAR:

Diese Skinheads erschlugen den Portugiesen nach einem verlorenen Spiel der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, nur weil er Ausländer war, aus Rache. Erstaunliches jetzt vom sächsischen Landeskriminalamt auf eine PANORAMA-Anfrage: Hier nämlich wird der Portugiese immer noch als quicklebendig geführt. Der Fall "zum Nachteil eines Portugiesen" nur als "gefährliche Körperverletzung" einklassifiziert.

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NOEMIA LOURENCO: (Übersetzung)

(Witwe)

"Solche Fälle wie der von meinem Mann werden in Deutschland wohl unterschlagen, unter den Teppich gekehrt. Was für eine Schande."

KOMMENTAR:

Bis heute fehlt der Mord an ihrem Mann im Zahlenwerk der Bundesregierung. Warum weiß eigentlich niemand. In der Bundesbehörde gibt man sich bemüht.

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FRITZ RUDOLF KÖRPER:

(Staatssekretär Bundesinnenministerium)

"Ich sag' auch ganz deutlich: Da soll nichts verschwiegen, nichts hinter dem Berg gehalten werden. Das wäre völlig falsch, und deswegen, sag' ich, ist es wichtig, dass auch alles auf den Tisch kommt."

KOMMENTAR:

Wirklich? Hier verblutete ein Algerier, auch er laut Statistik nie gestorben. Guben, Februar 99. Die Täter, rechtsextreme Jugendliche, die den Algerier in den Tod hetzten. Der Fall ist allgemein bekannt, wochenlang machte er Schlagzeilen, bundesweit. Trotzdem fehlt er in der Statistik der Bundesregierung. Ein mühsamer Erklärungsversuch:

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FRITZ RUDOLF KÖRPER:

"Ich will Ihnen sagen, da darf man auch keinen bestimmten Grund dafür heranziehen, so nach dem Motto, das ist eine gewisse Böswilligkeit, um die Statistik in einem anderen Licht erscheinen zu lassen. Nein, das ist die Frage der Abgrenzung."

KOMMENTAR:

Dieser Abgrenzung fiel offenbar auch Frank Böttcher zum Opfer. Er ist statistisch nie gestorben. Ein Skinhead tötete ihn, nur weil er aussah wie ein Punker. Seine Freunde leben noch heute in Angst, sie reden nur verdeckt.

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FREUND DES TODESOPFERS:

"Ihm wurde die Schädeldecke aufgetreten. Und nachdem also der Kopf schon offen war, wurde noch sieben Mal mit einem langen Messer in den Rücken und ähnliches gestochen."

KOMMENTAR:

Für das Gericht kein Mord, sondern nur eine schlichte Körperverletzung - und damit natürlich auch kein Fall für die Totenstatistik rechtsextremer Gewalt.

Experten wissen es schon lange: Die Opferzahlen werden möglichst niedrig gehalten, und zwar mit allen Tricks.

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FRANK JANSEN:

(Rechtsextremismus-Experte)

"Und dann spielt natürlich auch eine Rolle, dass hinterher, wenn die Zahlen dann zusammengerechnet werden zu einer Statistik, oftmals auch Fälle einfach gestrichen werden, herausgestrichen werden. Da habe ich also auch beispielsweise hier von der Brandenburger Polizei durchaus zu hören bekommen: Also die Statistik, die jetzt öffentlich vorliegt, stimmt so nicht, das ist einfach so nicht richtig. Wir können da nichts machen, wir dürfen nichts sagen, das ist politisch so gewollt, damit das Land eben nicht als braune Hochburg dasteht."

KOMMENTAR:

Vertuschen, verheimlichen, fälschen - und das bundesweit, seit Jahren.

Eine ungeschönte Liste der Todesopfer, recherchiert vom Journalisten Frank Jansen und anderen Experten. Die Liste zeigt das wahre Ausmaß des rechtsextremen Terrors. Es ist um ein Vielfaches höher als von der Bundesregierung behauptet. Seit der Wende mindestens 117 Todesopfer. Zur Erinnerung: die Bundesregierung spricht nur von 24. Weitere Erklärungsversuche:

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FRITZ RUDOLF KÖRPER:

(Staatssekretär Bundesinnenministerium)

"Ich denke auch, da sollte man keine falschen Schlussfolgerungen daraus ziehen in irgendeiner Form. Das kann auch ein Stück Zufall sein. Man muss, wie gesagt, statistisches Material auch entsprechend - ich sag' jetzt mal: vorsichtig angehen."

KOMMENTAR:

Man kann ja gar nicht vorsichtig genug sein mit der Statistik. Der Fall des Rechtsterroristen Kay Diesner zumindest scheint eindeutig. Organisiert im weißen arischen Widerstand, kämpfte Diesner direkt gegen den - wie er sagt - Judenstaat. Er feuerte ohne Vorwarnung mit einer Pumpgun auf einen Polizisten. Der Beamte war sofort tot.

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FRANK JANSEN:

"Im Fall Kay Diesner hat das Landgericht Lübeck zwei Mal ganz deutlich festgestellt: Kay Diesner hat aus einer menschenverachtenden, rechtsextremen Gesinnung heraus auf diesen Polizisten geschossen. Er hat ihn als einen Staatsbüttel angesehen, wie er sich hinterher im Prozess geäußert hat, der kein Existenzrecht hat und der einfach damit rechnen muss, dass er draufgeht."

KOMMENTAR:

Dieser Fall scheint so eindeutig, dass selbst der Staatssekretär sich ganz sicher ist. Alle statistischen Kriterien eines rechtsextremen Mordes sind erfüllt.

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FRITZ RUDOLF KÖRPER:

"Wenn ich mich richtig erinnere, ist dieser Täter in die von mir genannten Kategorien einzuordnen."

KOMMENTAR:

Wer würde ihm da widersprechen. Nur in seiner eigenen Statistik ist selbst dieser angeblich eindeutige Fall aus dem Jahr 97 nicht verzeichnet. 1997 und 98 - keine vollendeten Tötungsdelikte. Und noch ein Erklärungsversuch:

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FRITZ RUDOLF KÖRPER:

"Dieser von Ihnen besagte Fall hatte - ja - unter anderem einen rechtsextremistischen Hintergrund, aber offensichtlich nicht nur, ausschließlich, so dass also dieser Fall nicht in diese Auflistung gekommen ist."

KOMMENTAR:

Welchen anderen Hintergrund, weiß allerdings der Staatssekretär nicht und auch kein anderer. Es bleiben Unverständnis und Zorn.

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KONRAD FREIBERG:

(Gewerkschaft der Polizei)

"Dafür habe ich kein Verständnis. Das war ein Polizistenmörder, der wirklich ein Rechtsextremist ist, bekanntermaßen. Dass der in der Statistik gegen rechtsextremistische Gewalt nicht auftaucht, das ist für mich wirklich unverständlich."

KOMMENTAR:

Und damit immer noch nicht genug. Die Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke fragt die Regierung schon seit fast zehn Jahren nach den Opferzahlen rechtsextremer Gewalt. Dabei stieß sie auf schier Unglaubliches.

Hier die Opferliste der Regierung Kohl. Doch plötzlich, beim Regierungswechsel, verschwinden über die Hälfte dieser Toten - von Rot-Grün einfach weggestrichen.

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ULLA JELPKE:

(PDS)

"Meine erste Reaktion war, muss ich ehrlich sagen, dass ich wirklich mich nur noch an den Kopf gefasst habe und gesagt habe: Das darf nicht wahr sein, dass eine rot-grüne Regierung, wie gesagt, die sich als Schwerpunkt den Kampf gegen Rechtsextremismus vorgenommen hat, dass diese Regierung im Grunde genommen noch schlimmer fälscht als die alte Regierung. Und ich bin der Meinung, wer so mit den Opfern umgeht, kann Opfern weder Hilfe noch Schutz geben, sondern hat ein einziges Bestreben, nämlich zu bagatellisieren."

KOMMENTAR:

Bagatellisieren, da war schon die Kohl-Regierung reichlich schamlos, verzeichnete seit der Wende nur 34 Tote. Rot-Grün ist da offenbar noch viel dreister: noch ein paar Opfer weggerechnet, und plötzlich stehen nur noch 24 auf der Liste.

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INTERVIEWER:

"Wo sind die zehn Toten geblieben?"

FRITZ RUDOLF KÖRPER:

(Staatssekretär Bundesinnenministerium)

"Ja, ich - man könnte sagen, sind Sie froh, dass es nicht so viele geworden sind."

KOMMENTAR:

Einer der zehn Toten, die es bei Rot-Grün einfach nicht mehr gibt: Alexander Selchow, 1990 ermordet. Der Fall einfach weggestrichen, obwohl der Täter ein organisierter Neo-Nazi war. Warum eigentlich, fragen sich nicht nur die Angehörigen. Auch das Innenministerium räumt inzwischen höflich ein, dies sei eine berechtigte Frage.

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FRITZ RUDOLF KÖRPER:

"Aber ich bedank' mich ausdrücklich dafür, denke, das ist wichtig, denn Sie stellen sich die Frage: warum. Die Frage stelle ich mir jetzt auch, warum, und dieses Warum kriegt auch eine Antwort, muss auch eine Antwort bekommen. Sie bekommen sie auch."

Abmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Auf die Antwort waren wir natürlich gespannt. Wir wollten zu gern wissen, wie man die zehn Toten weggerechnet, in der Statistik versenkt hat. Hier ist sie, die Antwort des Staatssekretärs: Die Zahlen seinen - Zitat - "nicht vergleichbar, weil zwischenzeitlich die statistischen Erfassungsmerkmale geändert wurden." So einfach ist das. Und schon sind ein paar Menschen weniger Opfer der braunen Banden geworden.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 24.08.2000 | 21:00 Uhr