Millionen für abgehackte Finger - Selbstverstümmelung bei Ärzten

von Bericht: Thomas Berbner

Anmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Ärzte schwören ja bekanntlich den Hippokratischen Eid. Sie verpflichten sich, nach bestem Wissen und Können zum Wohle der Kranken zu arbeiten. Die eigene Person ist in diese Verpflichtung nicht eingeschlossen, und das ist wohl auch ganz gut so, denn einige Mediziner sind offensichtlich bereit, Hand an sich selbst zu legen, sich selbst zu verstümmeln, um damit viel Geld zu verdienen. Kann man sich Ärzte vorstellen, die sich selbst einen Finger abhacken, um dafür die Versicherungsprämie zu kassieren? Thomas Berbner konnte es kaum glauben.

Selbstverstümmelung bei Ärzten
Reportage von 1999 über einiger Mediziner, die sich sebst verstümmeln, um dafür die Unfallversicherungsprämie zu kassieren.

KOMMENTAR:

Ein erfahrener Unfallchirurg bei der Arbeit: Hansjoachim Witzel. Seine Finger hat er vor Jahren hoch versichert. Schon für den Verlust des linken Zeigefingers sah die spezielle Ärztepolice die volle Versicherungssumme vor: eine Million Mark. Zwei Jahre nach Versicherungsabschluß fuhr der Rechtshänder zu seinem Wochenendhaus und warf die Kreissäge an.

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HANSJOACHIM WITZEL:

(Arzt)

"Beim Sägen von Holz an der Kreissäge hat's den Zeigefinger hier erwischt, in der Höhe hier etwa, und der lag dann hier, der war nicht ganz ab."

KOMMENTAR:

Doch die Million hat er bisher nicht bekommen.

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HANSJOACHIM WITZEL:

"Die Versicherungen weigern sich zu zahlen, weil sie meinen, ich hätte das in suizidaler bzw. exekutiver Absicht gemacht."

INTERVIEWER:

"Was heißt das?"

HANSJOACHIM WITZEL:

"Das heißt, ich hab's absichtlich gemacht, weil man vermutet, ich wäre in finanziellen Schwierigkeiten."

KOMMENTAR:

Viele Ärzte haben seit Ende der achtziger Jahre solche speziellen Unfallversicherungen abgeschlossen. Das Angebot war verlockend: die volle Million gab es sogar schon für den Verlust des Zeigefingers der Nichtgebrauchshand, in der Regel der linken.

Die Versicherer dachten, die neue Ärztepolice sei ein gutes und nahezu risikofreies Geschäft - doch es kam anders. Plötzlich gingen die millionenschwer versicherten linken Zeigefinger gleich reihenweise verloren. Und meistens lag zwischen Vertragsabschluß und dem angeblichen Unfall nur ein knappes Jahr.

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KLAUS HITZER:

(Rechtsanwalt Versicherungswirtschaft)

"Der weitere Verlauf war überraschend für die Versicherungswirtschaft, und zwar deshalb überraschend, weil innerhalb kurzer Zeit eine große Zahl von Unfallschadenmeldungen einging. Und erstaunlich dabei war und auffällig dabei war, daß ganz überwiegend betroffen waren Zeigefinger der Nichtgebrauchshand, und zwar im Wege einer völlig isolierten Teilabtrennung eben dieses einen Zeigefingers."

KOMMENTAR:

Das typische Röntgenbild: eine Arzthand, der linke Zeigefinger glatt abgetrennt. Professor Jürgen Barz hat als Gerichtsgutachter viele solcher Bilder gesehen. Kein anderer Finger ist mitbeschädigt worden, minimaler Schaden, maximaler Nutzen. Für Barz ein eindeutiger Fall von Selbstverstümmelung.

PROF. JÜRGEN BARZ:

(Rechtsmediziner, Universität Düsseldorf) "Wir nennen eine solche Fingerhaltung eine 'Exekutionshaltung', die dadurch definiert ist, daß alle anderen Finger aus der Einschlagebene weggenommen werden, so daß durch einen Beilhieb eine rechtwinkling zur Fingerlängsachse erfolgte Amputation möglich ist, die zusätzlich noch ganz in der Nähe des Grundgelenkes lokalisiert sein kann."

KOMMENTAR:

Denn nur dann gibt es die volle Versicherungssumme: eine Million für zwei Fingerglieder.

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PROF. JÜRGEN BARZ:

"Ein anderer Kollege wollte für sein Kind ein Holzbrett zu einem Schiffchen zurechtsägen. Er will zu diesem Zweck mit dem Holzbrett in dieser Haltung in der Linken und der laufenden Kreissäge in der Rechten sich durch den Raum bewegt haben, wobei er gestolpert ist. Und diesen Stolpervorgang will er in dieser Haltung auf einer Unterlage abgefangen haben, wobei ihm die laufende Handkreissäge auf seinen linken Zeigefinger gefallen ist und diesen abgetrennt hat."

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INTERVIEWER:

"Wurden die Versicherer von dem Mißbrauchspotential bei den Ärzten überrascht?"

KLAUS HITZER:

(Rechtsanwalt Versicherungsgesellschaft)

"Ausgesprochen überrascht, das war sehr, sehr überraschend. Ebensowenig wie Sie oder wie wir uns vorstellen konnten, daß ein Arzt, dessen Ethik eigentlich aus sich heraus verbietet, sich selbst zu verstümmeln - der Arzt soll kurativ tätig sein - daß ein Arzt zum Beispiel bewußt sich selbst einen Finger abschlägt oder absägt, das hat jeden absolut überrascht, auch die Versicherungsgesellschaft natürlich. Damit hat keiner gerechnet."

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PROF. JÜRGEN BARZ:

(Rechtsmediziner, Universität Düsseldorf)

"In der Zeit von 1988 bis 95 habe ich etwa fünfzig solcher Fälle begutachtet, von denen achtzig Prozent Ärzte waren, also vierzig Fälle waren Ärzte."

INTERVIEWER:

"Und welche Berufsgruppen traten dabei besonders hervor?"

PROF. JÜRGEN BARZ:

"Es waren hauptsächlich Kollegen aus den operativ tätigen Fächern, also Chirurgen, Orthopäden, Anästhesisten."

KOMMENTAR:

Dr. Witzel pocht darauf, bei ihm sei es ein Unfall gewesen. Amputations-Rekonstruktion an der Kreissäge:

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INTERVIEWER:

"Wie ist jetzt der Unfall passiert?"

HANSJOACHIM WITZEL:

(Arzt)

"Indem die Säge auch fast so stehen blieb, das nicht ganz durch war, ich das drehen wollte. Und dabei bin ich da reingeraten, weil die ja sowieso stand, dann ging sie wieder los, jetzt hat sie sich halt ausgeschaltet, dann ging das wieder los, und dabei bin ich da - ich bin ja nur drangekommen."

KOMMENTAR:

So will Dr. Witzel seinerzeit den Zeigefinger abgespreizt haben - eine völlig unphysiologische Handhaltung, meinten die Gutachter bei Gericht.

PROF. JÜRGEN BARZ:

"Also diese Abspreizung des Zeigefingers muß man in jedem Fall als ungewöhnlich bezeichnen."

INTERVIEWER:

"Heißt das, es spricht einiges dafür, daß er den Zeigefinger dem Sägeblatt absichtlich dargeboten hat?"

PROF. JÜRGEN BARZ:

"Ich denke, daß da sehr gewichtige Indizien für eine solche Möglichkeit sprechen."

KOMMENTAR:

Ob Dr. Witzel sich den Finger tatsächlich absichtlich abgesägt hat, wird derzeit vor Gericht ermittelt. Im April geht der Prozeß in die dritte Instanz.

Ein anderer Fall: Der Arzt gab an, er habe Holz gehackt. Als er gerade wieder zuschlagen wollte, sei ihm ein Insekt hinter das linke Brillenglas geflogen. Dadurch sei der Schlag fehlgegangen. Als er versucht habe, den Zeigefinger unter dem Beil hervorzuziehen, sei dieser endgültig abgetrennt worden. Als Chirurg habe er sofort erkannt, daß der Finger nicht zu retten sei, und habe ihn auf den Komposthaufen geworfen.

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PROF. JÜRGEN BARZ:

(Rechsmediziner, Univ. Düsseldorf)

"In weitaus den meisten Fällen, die mir bekannt sind, wurden die Amputate nicht zur Versorgung der Verletzung mitgebracht. In vielen Fällen wird dann vorgetragen, entweder der abgetrennte Finger sei nicht gefunden worden, oder ein zufällig anwesender Hund hätte ihn gefressen oder eine Katze verschleppt."

KOMMENTAR:

Ein Arzt aus Mühlacker behauptet, er habe sich seinen Finger mit einem Klappstuhl abgetrennt. Als er nach einem Getränk greifen wollte, sei der Stuhl umgekippt. Irgendwie sei er mit der rechten Hand in das Gestell geraten und habe sich den Zeigefinger vollständig abgequetscht.

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PROF. JÜRGEN BARZ:

"Es war eine völlig glatte Verletzung, ohne jegliche Quetschungszeichen an den Wundrändern, so daß schon die Kollegen, die die Primärverletzung versorgt haben, an eine scharfe Verletzung, an eine Beilhiebverletzung gedacht haben."

KOMMENTAR:

Kirchen, Westfalen. Auch Dr. Wolf-Dietrich Wilhelm hat keinen linken Zeigefinger mehr. Der ehemalige Chefarzt der Anästhesie bleibt bis heute bei seiner Behauptung, es sei ein Mißgeschick gewesen.

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WOLF-DIETRICH WILHELM:

(Arzt)

"Ich habe vor Ostern '91 Kaminholz schneiden wollen mittels einer Kettensäge, und durch ein Zusammentreffen unglücklicher Umstände bin ich mit der laufenden Kette in Kontakt gekommen und habe mir dabei das Mittelglied des Zeigefingers fast total durchtrennt."

KOMMENTAR:

800.000 Mark hätte es dafür gegeben. Die laufende Motorsäge sei ihm auf die Hand gefallen, sagt Wilhelm, und habe dabei den Finger abgetrennt. Die Gutachter bei Gericht kamen zu einem anderen Ergebnis. Wilhelm verlor den Prozeß und wurde in einem anschließenden Strafverfahren wegen versuchtem Versicherungsbetrug zu 15.000 Mark Geldstrafe verurteilt. Der Arzt beteuert seine Unschuld, hat aber das Urteil akzeptiert. Andere Ärzte haben das noch vor sich, ihre verlorenen Finger beschäftigen weiter die Gerichte.

Abmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Inzwischen haben die Versicherer diese spezielle Police den sägenden und hackenden Ärzten angepaßt. Die volle Summe erhalten sie jetzt nur noch, wenn Daumen und/oder Zeigefinger der Arbeitshand, also zumeist der rechten Hand abgehackt sind. Und seither sind auch die Schadenszahlen deutlich zurückgegangen.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 04.03.1999 | 21:00 Uhr