Schutzlos auf Verbrecherjagd - Polizisten fordern schußsichere Westen

von Bericht: Thomas Berbner und Michaela Wich-Glasen

Anmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Viele Sparmöglichkeiten gäbe es für unseren Staat. Der Krankenhausarzt kauft seine Skalpelle selbst, die Krankenschwester die Verbände, der Beamte im Katasteramt seinen Taschenrechner, der Lehrer bezahlt nicht nur die Kreide, sondern auch die Bücher aus der eigenen Tasche. Noch ist niemand auf solche Ideen verfallen, noch bekommen unsere Krankenhäuser, Behörden und Schulen die nötigen Arbeitsinstrumente gestellt. Nur bei der Polizei ist das in einigen Bundesländern ganz anders. Waffen und Munition erhalten sie selbstverständlich. Aber von den bekanntlich ja nicht sehr üppig bezahlten Beamten wird erwartet, daß sie für ihre eigene Sicherheit zum Teil selbst sorgen.

Eigenschutz: Polizisten fordern schusssichere Westen
In den meisten Bundesländern müssen Polizeibeamte auf Streife selbst für ihre schusssicheren Westen aufkommen.

Thomas Berbner und Michaela Wich-Glasen sind durch deutsche Polizeistationen gereist.

KOMMENTAR:

Großfahndung nach einem Mörder. Bei der Jagd auf Dieter Zurwehme wußte die Polizei um die Gefährlichkeit der Situation. Die Beamten trugen schußsichere Westen. Für solche planbaren Einsätze ist die Ausstattung der Polizei mit Schutzwesten ausreichend. Im normalen Alltagseinsatz sieht das ganz anders aus.

Polizeimeister Joachim Hahnefeld fährt Streife durch Bremerhaven. Wie jeden Tag trägt er dabei unter dem Hemd eine schußsichere Weste. Die hat er sich von seinem eigenen Geld gekauft, tausend Mark als selbstfinanzierte Lebensversicherung.

0-Ton

JOACHIM HAHNEFELD:

(Polizeihauptmeister)

"Und zwar ist im Jahre 1993 hier in Bremerhaven ein Kollege angeschossen worden, und der sitzt seitdem im Rollstuhl. Und das war für mich der Anlaß, daß ich mir diese Weste zugelegt habe, auch wenn sie relativ teuer war."

KOMMENTAR:

Der Kollege war damals 31. Die Kugel des Täters drang in die Wirbelsäule ein. Hätte er eine schußsichere Weste getragen, könnte er seinen Dienst noch heute versehen.

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JOACHIM HAHNEFELD:

"Das sind im Grunde genommen die ganz banalen Einsätze, wo man in solche Situationen hineingeraten kann. Man denkt immer, das sind die riesigen Einsätze, wo man verletzt wird, aber im Grunde genommen sind das manchmal Familienstreitigkeiten, die gewaltig eskalieren können."

KOMMENTAR:

In Bremerhaven erhalten jetzt alle Polizeibeamten im Außendienst eine eigene schußsichere Unterziehweste. Der Magistrat rüstet alle Beamten mit solchen leichten Westen aus. Anprobe in der Kleiderkammer. Auch Polizeimeister Hahnefeld tauscht seine private Weste jetzt gegen eine dienstliche. Diese neuen Unterziehwesten halten Pistolenkugeln und Schüsse aus Maschinenpistolen ab. Sie wiegen nur drei Kilo und können deshalb während einer kompletten Dienstschicht getragen werden. Ein zusätzlicher Einschub schützt vor Messerstichen.

Wenige Kilometer entfernt: Thomas Tonnemacher ist Streifenpolizist in Bremen - dasselbe Bundesland, und doch ist hier die Situation ganz anders. Im Gegensatz zu seinen Kollegen in Bremerhaven erhält Thomas Tonnemacher keine eigene schußsichere Weste. Deshalb hat er sich schon vor Jahren entschieden, für den Eigenschutz selbst zu bezahlen. 1.200 Mark, keine kleine Summe für den Polizeimeister.

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THOMAS TONNEMACHER:

(Polizeimeister)

"Vor einigen Jahren war also öfter, daß Kollegen getötet wurden im Einsatz, durch Messer oder Pistolenkugeln. Und da haben wir im Familienrat beschlossen, daß es sicherlich besser ist, 1.000 Mark oder 1.200 Mark für eine Weste auszugeben, als daß ich dann irgendwann mal auf der Strecke bleibe, und meine Familie bleibt alleine."

INTERVIEWER:

"Ist es nicht merkwürdig, daß Sie sich eine solche Weste privat finanzieren müssen?"

THOMAS TONNEMACHER:

"Wenn mein Dienstherr das zur Zeit noch nicht kann oder nicht will, dann ist mir mein Leben eben selber wichtig, dann muß ich da selber was für tun."

KOMMENTAR:

Frankfurt. Die Beamten der Sonderdirektion Mitte bereiten sich auf ihre tägliche Streife vor. Jeder hat seine eigene Weste, denn die rot-grüne Landesregierung hatte schon 1996 alle Beamten damit ausgerüstet. Hessen ist das einzige Bundesland, das seine Beamten im Außendienst auf diese Weise schützt.

Polizeidirektion Kiel. Auch hier wollte schon vor Jahren jeder Beamte eine eigene Weste. Statt der benötigten 160 erhielt Polizeidirektor Wolfgang Pistol aber nur 36. Weil er damals nicht wußte, wie er die unter seinen Beamten verteilen sollte, entschloß sich Polizeidirektor Pistol zu einer ungewöhnlichen Maßnahme.

O-Ton

WOLFGANG PISTOL:

(Leitender Polizeidirektor)

"Nachdem wir feststellen mußten, daß nur für etwa jeden vierten Beamten eine Weste zur Verfügung steht, haben wir uns entschlossen, die zur Verfügung stehenden Westen zu verlosen unter den Beamten, die im Streifendienst sind. So gesehen gibt es keine radikalere Gerechtigkeit als das Glück."

KOMMENTAR:

Die Ausstattung mit Schutzwesten - reine Glückssache. In diesem Raum kam es zur Kieler Schutzwestenlotterie.

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VOLKER KÜHL:

(Polizei Kiel)

"Das Losverfahren gestaltete sich wie folgt: Auf solchen Zetteln wurden die Namen der Kollegen notiert, die bestellt hatten. Diese Namen kamen dann in eine Lostrommel, und in Gegenwart von Dienststellenleitung, Personalrat und Gleichstellungsbeauftragtem zog dann eine gewissermaßen Schutzwestenfee die Begünstigten."

KOMMENTAR:

Die Kieler Lotterie zeigt, wohin der Mangel an Schutzwesten führen kann. Das Losverfahren erschien den Beamten noch als das gerechteste.

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WOLFGANG PISTOL:

(Leitender Polizeidirektor)

"Wir haben uns die Entscheidung nicht leicht gemacht und haben uns natürlich die Frage gestellt, nach welchen Kriterien sollen die Westen dann verteilt werden. Man hätte die Möglichkeit nehmen können, daß es nach Alter geht oder nach der Frage, ob jemand verheiratet oder nicht verheiratet ist. Aber alles dies wären auch unsachliche Überlegungen gewesen, so daß uns in der Tat die Verlosung als das objektivste Verfahren erschien."

KOMMENTAR:

Das schleswig-holsteinische Innenministerium hob den Losentscheid auf. Die Gewinner mußten die Westen wieder abgeben. Sie wurden auf die Streifenwagen verteilt. Inzwischen hat jeder Beamte in Schleswig-Holstein wenigstens eine eigene Schutzwestenhülle, in die er die schußsicheren Platten aus dem Streifenwagen oder dem Revier einschieben soll.

Hagen, vergangenen Sonntag. Es ging alles ganz schnell. Ein Türke hatte sich auffällig benommen. Als eine Streife ihn ansprach, zog er ohne Vorwarnung eine Waffe und schoß. Die Beamten trugen keine schußsicheren Westen. Einer der Beamten wurde schwer verletzt.

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WOLFGANG RAHMER:

(Staatsanwaltschaft Hagen)

"Dieses Notizbuch, was ich hier in den Händen halte, hat wahrscheinlich dem einschreitenden Polizeibeamten, der von dem Täter eine Kugel bekommen hat, das Leben gerettet. Die Kugel ist nämlich, weil er das Notizbuch in seiner Brusttasche hatte, durch das Notizbuch durchgedrungen - Sie sehen erhebliche Verformungen - und hat natürlich einen Großteil der Energie verloren. Der Kollege hatte einen Bruststeckschuß und wird, so jedenfalls nach Auskunft der Ärzte, nach einer Operation gesund werden."

KOMMENTAR:

Inzwischen hat sich der Zustand des Beamten wieder verschlechtert, er schwebt in Lebensgefahr.

In Nordrhein-Westfalen haben die Beamten im Streifendienst keine persönlichen Unterziehwesten. Im Kofferraum werden hier lediglich schwere Überziehwesten mitgeführt. Daniel Puchacz und Bernd Klein müssen sich gegenseitig helfen, wenn sie das Modell von 1981 anlegen wollen. Die schweren Westen entsprechen der gleichen Schutzklasse wie die modernen leichten, wiegen aber mehr als das Dreifache.

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BERND KLEIN:

(Polizeikommissar in Ausbildung)

"Man muß damit laufen, man muß eventuell mal damit schießen. Man kriegt Probleme, wenn man die Waffe in beide Hände nimmt, daß das hier schon anfängt zu drücken. Eventuell muß man knien, eventuell fällt man mal hin. Man fühlt sich also schon ein bißchen dann auch wie eine Schildkröte, die vielleicht auf den Rück fällt."

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DANIEL PUCHACZ:

(Polizeiobermeister)

"Darüber hinaus habe ich Schwierigkeiten, an meine Waffe heranzukommen. Ich trage die Waffe kurz und komme so nicht an die Waffe heran. Auch an meine Schließacht als auch an das Reservemagazin komme ich nicht heran."

KOMMENTAR:

Das Innenministerium aber hält trotzdem an den alten Westen fest.

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DIETER GLIETSCH:

(Leiter Einsatz, Innenministerium NRW)

"Das Überziehen der mitgeführten Weste dauert Sekunden, und es gibt nur ganz seltene Situationen, in denen eine unvorhersehbare Gefahr festzustellen ist. Die meisten Situationen, die wir kennen, die sind so, daß der Kollege die Lage beurteilen kann und sein Verhalten, den Einsatz danach einrichten kann."

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WILFRIED ALBISHAUSEN:

(Bund Deutscher Kriminalbeamter)

"Das geht gar nicht, weil das Sekundenentscheidungen sind. Und ich glaube, die Polizei würde ein schlechtes Bild in der Öffentlichkeit abgeben, wenn sie in einer Gefährdungslage zunächst mal zum Streifenwagen geht und sich umzieht. Es käme auch keiner auf die Idee, von einem Beamten zu verlangen, seine Waffe im Wagen zu lassen und erst dann die Waffe anzulegen, wenn er meint, daß eine Gefährdungssituation vorliegt. Also ich denke als Analogie, zum Waffentragen gehört auch die Schutzweste."

KOMMENTAR:

Hamburg. Birgit Klar und ihre Tochter Nina Schmidt erinnern sich an einen schlimmen Tag. Als junge Beamtin bei der Bereitschaftspolizei wurde Nina Schmidt bei einer Demonstration verletzt: Ein Stein traf sie am Bein. Der Nagel des Knieschoners bohrte sich durch den Knochen. Eine schmerzhafte Verletzung, gegen die auch eine Schutzweste nicht geholfen hätte. Doch Nina Schmidt hat wie viele Beamte, die einmal angegriffen wurden, den Vorfall nur schwer verarbeitet.

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NINA SCHMIDT:

"Ich hatte Angst, wieder in den Beruf zurückzugehen. Ich hatte Angst, daß mir das gleich noch mal passiert, daß ich angreifbar bin."

KOMMENTAR:

Ninas Mutter hat jetzt einen Entschluß gefaßt. Der schlechten Ausstattung bei der Polizei will sie nicht länger tatenlos zusehen.

BIRGIT KLAR:

"Ich möchte meiner Tochter Nina den Schutz für ihr Leben geben, den ich ihr geben kann als Mutter, und ich werde ihr eine schußsichere Weste kaufen, und zwar deshalb, weil die Aufgabe vom Senat nicht übernommen wird, und ich fühle mich verpflichtet dazu."

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CHRISTOPH HOLSTEIN:

(Pressesprecher Innenbehörde Hamburg)

"Es ist ja nicht so, daß wir täglich bei der Hamburger Polizei mit schießwütigen Gangstern zu tun haben. Es sind Extremsituationen, und wir können die normale Ausstattung unmöglich an Extremsituationen orientieren, das ist nicht machbar."

KOMMENTAR:

Er lebt nur noch, weil er sich nicht auf seinen Dienstherrn verlassen hat. Der Hamburger Beamte hatte versucht, einen Autodieb festzunehmen. Der entriß ihm die Dienstwaffe und schoß in die Herzgegend. Nur weil er eine selbstgekaufte Unterziehweste getragen hatte, hat der Beamte überlebt. In der Hansestadt erhalten die Polizeibeamten beim Kauf einer Weste nur einen Zuschuß von 50 Prozent. 336 Beamte haben inzwischen eine eigene Weste."

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DIRK WENNMANN: (Polizeihauptmeister, Deutsche Polizei Gewerkschaft)

"Ich weiß, daß jetzt in meinem Zug, da tragen - 80 Prozent haben sich jetzt eine Weste besorgt und tragen sie. Und die letzten wollen auch noch, aber es ist halt ein Geldproblem, muß man ganz klar sagen."

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 05.08.1999 | 21:00 Uhr