Vermißte Kinder in Deutschland - Die Ohnmacht der Eltern

von Bericht: Thomas Görlitzer, Jochen Graebert und Christoph Mestmacher

Anmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Aus dem Sandkasten, aus dem Kinderwagen, auf dem Weg zur Schule oder vom Spielplatz nach Hause - in Deutschland verschwinden jährlich rund 10.000 Kinder. Der Elternalptraum, den ganz Deutschland zuletzt im Fall Christina Nytsch miterlebte. Die meisten Kinder tauchen zum Glück spätestens nach drei Tagen wieder auf. Sie waren ausgerissen oder wurden von einem Elternteil entführt. Aber es sind genau 805 Kinder, die als "ernstzunehmend vermißt" gelten, so sagte uns das Bundeskriminalamt heute. Und viele sind schon länger als ein Jahr verschwunden. Da kommen Bilder hoch, Bilder der gefolterten Kinder in Belgien. Ist so eine Verbrechensserie auch bei uns möglich? Was tun unsere Behörden und unsere Polizei eigentlich dafür, daß die Schicksale dieser Kinder aufgeklärt, daß sie vielleicht sogar wiedergefunden werden? Deutschland ist auf diesem Gebiet, verglichen zum Beispiel mit den USA, fahndungstechnisches Entwicklungsland, Eltern werden da alleingelassen.

Vermisste Kinder in Deutschland - Die Ohnmacht der Eltern
Aus dem Kinderwagen, auf dem Weg zur Schule oder zum Spielplatz - in Deutschland verschwinden jährlich rund 10.000 Kinder.

Das haben Thomas Görlitzer, Jochen Graebert und Christoph Mestmacher festgestellt.

0-Ton Beerdigung

PFARRER:

"Hören wir nun dieses Lied, das Nelly so viel bedeutet hat."

KOMMENTAR:

Strücklingen, ein Dorf trauert um Christina Nytsch, von allen Nelly genannt. Die Eltern bangten eine Woche um ihr vermißtes Kind. Dann, nach der Hoffnung, die bittere Gewißheit: Die 13jährige Christina war ermordet worden.

Diese Mutter hofft bis heute. Abschied von ihrer Tochter Susann kann Ramona Schön nicht nehmen. Seit dreieinhalb Jahren bangt sie, so lange schon quält sie die Ungewißheit. Susann gilt als vermißt. Sie verschwand als Zehnjährige spurlos. Ramona Schön, eine von über 800 Müttern in Deutschland, die ihre Kinder suchen.

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RAMONA SCHÖN:

"Der Schmerz wird eigentlich immer größer, weil die Zeit immer länger wird, und die Sehnsucht, die bleibt doch. Unsere Familie ist im Prinzip so deprimiert und traurig, weil es gibt keinen Geburtstag, den man mehr richtig begehen kann, keinen Feiertag. Weihnachten, Ostern, alles ist irgendwo traurig, weil - bei uns ist es eben nicht mehr so, da fehlt jemand."

KOMMENTAR:

Susann, kurz vor dem 12. August 1994. An diesem Tag spielt sie, wie immer, in der Plattenbausiedlung von Malchin. Um 15 Uhr sehen Zeugen, wie sie auf diesem Weg um das Haus herumgeht. Hier verlieren sich dann ihre Spuren - bis heute. Niemand weiß warum. Um zehn Uhr abends alarmiert die Familie die Polizei. Die Beamten nehmen die Meldung auf, doch bis man wirklich von einer Fahndung sprechen kann, vergeht noch viel Zeit.

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RAMONA SCHÖN:

"Bei uns dauert das alles viel zu lange, vom Aufnahmeprotokoll, also vom Zeitpunkt des Verschwindens des Kindes, bis da endlich was passiert, richtig passiert. Und das heißt für mich, daß die Suche losgeht, über Lautsprecherwagen, über Plakate, Suchplakate, wie gesagt, über eine größere Gruppe, sei es mit Hunden ausgestattet, mit Hubschraubern, eben alles, was man sich darunter vorstellen kann, was zu einer großräumigen Suche gehört - das dauert viel, viel, viel zu lange."

KOMMENTAR:

Tatsächlich gehen wertvolle Stunden verloren. Das zuständige Fachkommissariat wird erst am nächsten Tag, zehn Stunden später, aktiv. Die Suchplakate werden erst am übernächsten Tag, also 36 Stunden später, ausgehängt. Das Problem: Es mußte erst eine Druckerei beauftragt werden. Eigene Kapazitäten hat die Polizei in Mecklenburg-Vorpommern nicht. Der erste Fernsehbericht wird erst vier Tage nach Susanns Verschwinden ausgestrahlt. Bis dahin hatte die verzweifelte Mutter vergeblich bei Fernsehsendern angerufen. Kein Einzelfall, sagen Polizeiexperten. Der Grund:

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PROF. ADOLF GALLWITZ:

(Polizeihochschule Schwenningen)

"Ich denke, wir scheuen uns davor, daß alle Alarmklänge anlaufen, wenn wir hören - unabhängig von der Tageszeit -, daß ein Kind vermißt ist. Und wir scheuen uns davor, optimal alles in die Wege zu leiten, weil wenn wir so ein bißchen die erste Zeit die Sorge oder die Vermutung haben, es könnte ja sein, daß sich alles im Nichts auflöst, daß das Kind zurückkommt, und dann stehe ich dumm da, und die Leute lachen mich aus, weil ich vielleicht zu früh reagiert habe. Und diese Sorge kostet mit Sicherheit Menschenleben. Insofern sollte man den Mut haben, sich möglicherweise vorwerfen zu lassen, daß man überreagiert hat, aber hat dann möglicherweise auch dem einen oder anderen Kind - und sei es nur ein Kind in vielen Jahren - das Leben gerettet."

KOMMENTAR:

So wie in den USA - Beispiel Chicago. Hier im Polizeihauptquartier hat niemand Angst vor Fehlalarm, erst recht nicht bei vermißten Kindern.

Hier wird keine Sekunde vergeudet. Die Polizisten in Chicago wissen ganz genau: Die ersten vier Stunden entscheiden über Leben und Tod. Die Vermißtenanzeige geht sofort in den Zentralcomputer. Darauf hat jede Polizeidienststelle in den USA Zugriff. Während die ersten Polizisten schon auf der Straße suchen, wird im Keller bereits das Fahndungsplakat entworfen - gut lesbar, klar zu erkennen, bis zu 10.000 Plakate als Sofortmaßnahme. Die gehen an die Fernsehstationen und werden innerhalb von zwei Stunden in der Wohngegend des vermißten Kindes verteilt.

Die Fahnderin Connie Perusich ist der Star der Truppe. Niemand hat so viele Fälle gelöst wie sie. Connie weiß genau: der größte Feind ist die Zeit. Und wenn ein Kind sich nur verspätet hat - egal, denn Warten kann tödlich enden. Deshalb setzt sie alles in Bewegung.

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CONNIE PERUSICH: (Übersetzung)

(Polizei Chicago)

"In diesem speziellen Fall hatte die Mutter ein gutes Foto, und innerhalb von zwei Stunden druckten und verteilten wir 7.000 dieser Fahndungsplakate."

KOMMENTAR:

Die Nachtschicht berichtet Commander Roberta Bartik. Die Chefin prüft akribisch jede einzelne Vermißtmeldung. Auch dafür gibt es Gründe:

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ROBERTA BARTIK: (Übersetzung)

(Polizei Chicago)

"Ich habe präzise Anweisungen. Bei einem vermißten Zwölfjährigen muß ich sofort angerufen werden, egal wo ich gerade bin, egal zu welcher Zeit, und sei es mitten in der Nacht. Wenn wir dann am Wochenende die Druckerei brauchen für 10.000 Fahndungsplakate, dann kommen die eben rein, und ich bezahle die Überstunden. Das ist keine Ausnahme hier in Chicago, das passiert sehr häufig."

KOMMENTAR:

Ein Angebot an alle Eltern: dieser Vermißtenpaß mit Foto und Fingerabdruck. Wenn Kinder verschwinden, haben die Eltern alle Daten griffbereit für die Polizei.

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ROBERTA BARTIK: (Übersetzung)

"Wir haben eine 99prozentige Aufklärungsrate, und dabei soll es bleiben. Es geht darum, möglicherweise ein Leben zu retten."

KOMMENTAR:

Dagmar Funke aus Düsseldorf hat ganz andere Erfahrungen gemacht: Ihre zweitälteste Tochter Debbie ist vor zwei Jahren verschwunden - spurlos. Bis heute hat sie die Hoffnung nicht aufgegeben, Debbie lebend wiederzusehen. Am 13. Februar 1996 gegen Mittag kam das achtjährige Mädchen von der Schule nicht mehr nach Hause. Die Eltern riefen am Nachmittag die Polizei. Doch die Fahndung, klagt Dagmar Funke, kam nur zögerlich in Gang.

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DAGMAR FUNKE:

"Das Originalfoto von der Debora wurde in der Nachbarschaft rumgezeigt. Die Leute wurden hier befragt. Das geschah noch am gleichen Tag, und erst am nächsten Tag kam die Hundertschaft an Polizei, die hier gesucht haben - die Wälder durchgesucht haben oder eben hier die Gegend abgesucht haben. Und da flogen auch erst die Hubschrauber, diese Hubschrauber rum."

KOMMENTAR:

Auch in den folgenden Tagen verstrich wertvolle Zeit. Die nahegelegene Kleingartensiedlung wurde erst nach einer Woche durchsucht. Das Fahndungsfoto war erst nach einem Monat fertig, denn Debbies Kleidung vom Tag ihres Verschwindens mußte nachgekauft werden.

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FRIEDHELM WERNER:

(Polizei Düsseldorf)

"Wir sind jetzt sicherlich auch am Ende, und wenn es keine neuen Hinweise gibt und keine weiteren Hinweise gibt, gibt es im Moment für uns nichts Konkretes zu tun."

KOMMENTAR:

Auch ihre Tochter Susann wird längst nicht mehr gesucht. Nicht mal für eine Belohnung auf Hinweise hatte das Land Geld übrig. Statt dessen wurde ihr das Kindergeld sofort gestrichen. Sie steht allein da, beauftragte einen Privatdetektiv und setzte eine Belohnung aus.

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RAMONA SCHÖN:

(Mutter von Susann)

"Das gebe ich so lange nicht auf, bis ich nicht konkret weiß, was mit ihr passiert ist. Es gibt immer zwei Möglichkeiten: entweder sie lebt noch - woran ich eben stärker glaube - oder sie lebt nicht mehr. Aber dann brauche ich auch Beweise. Ansonsten kann ich das nicht einfach hinnehmen."

KOMMENTAR:

Während in Deutschland verzweifelte Eltern allein weitersuchen müssen, setzt Amerika auf High-Tech und Manpower. Hier, nahe Washington D.C. , sitzt das National Center für vermißte und geschändete Kinder. Ohne diese halb staatliche, halb private Einrichtung wäre eine so erfolgreiche Polizeiarbeit nicht möglich. Denn was die Polizei aus Geldmangel nicht leisten kann, macht etwa Glenn Miller, er löst das größte Problem für die Ermittler von Langzeitvermißten. Niemand weiß, wie etwa Susann dreieinhalb Jahre nach ihrem Verschwinden aussieht. Glenn läßt sie am Computer altern.

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GLENN MILLER: (Übersetzung)

(National Center)

"Das Gesicht wächst und verändert sich so wahnsinnig schnell in diesem Alter, und das heißt doch: die Person auf dem alten Fahndungsplakat der Polizei existiert nicht mehr."

KOMMENTAR:

Ein Langzeitvermißter im Alter von zwei Jahren. Am Computer wurde er acht Jahre älter. So sah der Zehnjährige aus, als er gefunden wurde - eine verblüffende Ähnlichkeit.

Der Popsong Runaway Train von Soul Asylum, ein Nummer 1-Hit in Amerika. Es geht in diesem Lied um vermißte Kinder - Beispiel für den Stellenwert, den das Thema in den USA hat. Nicht nur das ein Hit, auch dieser Werbebrief - vorne Reklame, hinten vermißte Kinder. Das National Center erreicht so täglich 57 Millionen Haushalte.

An Bahnhöfen stehen diese Automaten. Kaum einer, der davor nicht anhält. So geht die Suche auch Jahre später immer weiter - häufig erfolgreich.

Abmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Viel Betroffenheit, wenig Hilfe in Deutschland. Das gezeigte amerikanische Zentrum hilft übrigens auch, deutsche Kinder wiederzufinden. Weltweit ist das für Eltern die einzige Anlaufstelle, um zum Beispiel altersgerechte Fotos der Vermißten erstellen zu lassen.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 09.04.1998 | 21:00 Uhr