Undemokratisch und verfassungswidrig - Neue Regierung gängelt ihre Abgeordneten

von Bericht: Christoph Mestmacher

Anmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Der 14. Deutsche Bundestag hat seine Arbeit aufgenommen, und zum ersten Mal regieren die Grünen mit. An die grüne Gründerzeit lassen sich die neuen Machthaber heutzutage aber nur ungern erinnern. Im Parteiprogramm war zum Beispiel Basis-Demokratie ein wichtiger Begriff. Wir erinnern uns noch schwach an die längst aufgegebene Idee von der Ämterrotation. Von Ansprüchen solcherart ist - und das ist wohl auch ganz gut so - nicht viel übriggeblieben. Die Grünen sind Pragmatiker der Macht. Aber über die noch ganz frische Koalitionsvereinbarung müssen wir uns nun doch ein wenig wundern. Dort verstoßen die neuen Regierungsparteien gegen das Gundgesetz, so das einhellige Urteil von Verfassungsrechtlern, und zwar in einem Passus, in dem es um urdemokratische Regeln geht. Den regierenden Parlamentariern werden Rechte genommen, sie werden zu Jasager degradiert. Und eben jene Volksvertreter finden es so ganz in Ordnung - oder sie haben es noch gar nicht bemerkt. Christoph Mestmacher ist beim Lesen der Koalitionsvereinbarung darauf gestoßen.

Neue Regierung gängelt Abgeordnete - Verfassungsbruch?
Als Verfassungsbruch bezeichnen Juristen einen Teil der Koalitionsvereinbarung zwischen den Grünen und der SPD.

KOMMENTAR:

Freude über ein Meisterstück bei Kanzler Schröder und seinem Schatten Lafontaine. Schnell wurde die Koalition verhandelt, der Vertrag unterschrieben. Seitdem wird in Bonn um die Wette gelächelt. Die Rot-Grünen waren und sind auf ihr Werk so richtig stolz. Damit es auch friedlich bleibt, wurden rot-grüne Abgeordnete schriftlich im Koalitionsvertrag diszipliniert. Für sie gilt zukünftig - Zitat:

"Im Bundestag und in allen von ihm beschickten Gremien stimmen die Koalitionsfraktionen einheitlich ab."

Dieser Satz, so sagen Staatsrechtler, schränkt die Freiheit des Abgeordneten ein - in einer nicht hinnehmbaren Art und Weise.

0-Ton PROF. KLAUS STERN: (Staatsrechtler Universität Köln)

"Auch politische Absichtserklärungen müssen das Verfassungsrecht einhalten. Und diese Vorschrift ist mit Artikel 38, dem freien Mandat des Abgeordten, nicht vereinbar. Sie sieht nicht nur einen Fraktionszwang, sondern auch einen Koalitionszwang vor, und das ist verfassungsrechtlich nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht zulässig."

KOMMENTAR:

Der verfassungswidrige Passus ist verabschiedet - nicht jeder wußte, was er tat.

0-Ton KLAUS LENNARTZ: (Bundestagsabgeordneter, SPD)

"Ich habe mich mit den inhaltlichen Dingen beschäftigt, mit der Steuerfrage, mit der Frage Umwelt, die Fragen sind mir geläufig, da können Sie mir gern eine Frage zu stellen. Aber Kooperation der Parteien - tut mir leid, kann ich Ihnen zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Antwort geben."

KOMMENTAR:

Andere, besonders grüne Basisdemokraten, reagierten viel pragmatischer.

0-Ton CHRISTA NICKELS: (Parl. Staatssekretärin, "Die Grünen")

"Das muß man bei uns noch mal ausdrücklich reinschreiben, damit es klar ist. Wir müssen uns jetzt ab sofort von 18 Jahren sehr guter Oppositionspolitik auf eine sehr effiziente Regierungspolitik umstellen. Und da ist es richtig, einfach noch einmal die Usancen mit reinzuschreiben."

INTERVIEWER:

"Bei CDU/CSU und FDP tauchte das nie auf, daß es das imperative Mandat gibt, um das man früher immer protestiert hat auf grüner Seite."

CHRISTA NICKELS:

"Das sehe ich völlig anders. Also ich gehe davon aus, daß hier die Probleme, wo man Fragen hat, grade wenn man in Regierungsverantwortung ist, auf dem kleinen Dienstweg regeln kann."

0-Ton INTERVIEWER:

"Daß Sie weitergehen in dieser Koalitionsvereinbarung, in dem Koalitionsvertrag, als CDU/CSU und FDP es jemals auch nur angedacht haben, das ist für die Grünen doch bemerkenswert oder?"

WINFRIED NACHTWEI: (Bundestagsabgeordneter, "Die Grünen")

"Das scheint bemerkenswert zu sein, ja."

MATTHIAS BERNINGER: (Bundestagsabgeordneter, "Die Grünen")

"Das ist der Punkt halt, den man machen muß, wenn man in die Regierung kommt, und das ist die Einschränkung - sag’ ich mal - der parlamentarischen Freiheit, die wir als Regierungsabgeordnete haben, aber auch gerne hinnehmen."

KOMMENTAR:

Erstaunlich ist, daß trotz der juristischen Kompetenz in der neuen Regierung - der neue Kanzler selbst ist gelernter Rechtsanwalt - offenbar niemand ins Grübeln kam. Erklärungsversuch:

0-Ton PROF. KLAUS STERN: (Staatsrechtler Universität Köln)

"In der Tat ist es sehr verwirrend, daß Juristen wie etwa der Bundeskanzler, der ja selbst Jurist ist, oder die beiden Verfassungsminister, die Justizministerin und der Innenminister, daß sie einen solchen Passus akzeptiert haben. Ich kann mir nur vorstellen, daß man es nicht genau gelesen hat."

KOMMENTAR:

Auch koalitionserfahrene Veteranen sind empört, wenn sie mit dieser Verpflichtung zum Koalitionszwang der neuen Machthaber konfrontiert werden.

0-Ton BURKHARD HIRSCH: (ehem. Bundestagsabgeordneter, FDP)

"In Koalitionen gibt es einen besonders intensiven Abstimmungsbedarf. Aber hier werden daraus Rechtspflichten gemacht. Das ist das imperative Mandat der Hierarchen, das heißt, hier bestimmt nicht die Basis oder der Abgeordnete selber, sondern die Vorsitzenden, die Chefs, der Koalitionsausschuß schreibt dem einzelnen Abgeordneten vor, was er tun darf und was er nicht darf. Da liegt das eigentliche Problem, weil hier die Demokratie im Grunde genommen auf die Spitze gestellt wird. Der Abgeordnete wird in diesem Vertrag in einer Weise geknebelt, wie ich das noch nie vorher gesehen habe."

Abmoderation: PATRICIA SCHLESINGER:

Auch in der alten Koalition mit CDU/CSU und FDP gab es einen Fraktionszwang. Aber so dreist, diese Verpflichtung aufzuschreiben, waren bisher nur die Demokraten von der SPD und den Grünen. Ist das der Wechsel mit der Überschrift "Aufbruch und Erneuerung"?

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 29.10.1998 | 21:00 Uhr