Frühpensionierte Lehrer - Wie der Staat Steuergelder und Arbeitskraft verschleudert

von Bericht: Stephan Wels und Anke Jahns

Anmoderation:

PATRICIA SCHLESINGER:

Regen wir uns noch auf über 21 Prozent Rentenversicherungsbeitrag und über aberwitzige Steuern? Es gibt eine Berufsgruppe, die das nicht belastet. Ihre Vertreter gelten als Jammerlappen, als larmoyante, besserwisserische Privilegien-Künstler, die es verstehen, zu klagen, ohne zu leiden. Sie selbst sehen sich eher als im Klassenzimmer Gefolterte. Ich rede von Lehrern. Magengeschwüre, Allergien, Kreislaufschwäche - immer weniger halten ihren Job durch bis zum Pensionsalter. Und das auch, weil ihnen die Frühpensionierung sehr leicht gemacht wird. Das wird jetzt keine Neuauflage des ewigen Genörgles über Lehrer als Stammgäste im vielzitierten Freizeitpark, denn auch woanders, in weniger aufreibenden Beamtenjobs, dürfen einmal außer Dienst gestellte Lehrer, selbst wenn sie es wollten, nie wieder arbeiten.

Frühpensionierte Lehrer: verschleudertes Geld & Arbeitskraft
Immer weniger Lehrer halten ihre Tätigkeit aufgrund des stressigen Schulalltages bis zum Pensionsalter durch.

Über volkswirtschaftlichen Unsinn berichten Stephan Wels und Anke Jahns.

KOMMENTAR:

Kein Weg ist ihm zu weit, kein Termin zu mühsam, wenn’s um die Politik geht. Helmut Reischmann, 59 Jahre, CDU-Stadtverordneter in Frankfurt. Immer dabei, wenn es um Sitzungen und Ausschüsse geht, aber als Lehrer ist er dienstunfähig, im Moment noch bei vollen Bezügen.

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HELMUT REISCHMANN:

(Frühpensionierter Lehrer)

"Ich habe vom Regierungspräsidenten im September, am 8. September, diese Verfügung erhalten, in der steht, daß ich bis Ende des Jahres dienstunfähig bin und am 1. Januar in den Ruhestand versetzt werde."

KOMMENTAR:

Dann wäre Reischmann wohl nur noch im Rathaus. Sein Pech: Der Kultusminister traf den Beamten bei vielen Terminen. Er fand ihn, anders als der Amtsarzt, gar nicht krank.

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HARTMUT HOLZAPFEL:

(Kultusminister Hessen, 28.10.97)

"Er ist auch dieser Tage, im übrigen noch grade gestern abend wieder gesehen worden bei der Verabschiedung des österreichischen Generalkonsuls. Und er hat eigentlich bei keinem dieser Auftritte den Eindruck erweckt, daß er krank sei und daß er unter irgendwelchen Gebrechen leiden würde."

KOMMENTAR:

Schon seit Januar warten diese Schüler in Stierstadt vergebens auf den Lehrer Reischmann. Der schaffte es zwar nicht mehr in die Schule, aber gleichzeitig amüsierte er sich beim Faschingsumzug. Einen Krankenschein hat er zwar nie abgegeben, aber eine Amtsärztin hat ihm schließlich Dienstunfähigkeit bescheinigt, unter anderem wegen Kreislaufbeschwerden. Diagnose: Zu krank für die Schule, fit für die Politik. Der Kultusminister läßt das Gutachten jetzt überprüfen, eines von Tausenden bundesweit.

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DR. FRANZ-JOSEF ANTWERPES

(Regierungspräsident Köln)

"Wenn ich mir so einige Fälle ansehe, dann muß ich das Lachen oder das Weinen unterdrücken. Wir haben einen Fall, da ist eine Lehrerin pensioniert worden, weil sie eine Gesamtschul-Phobie hat. Das ist von einem Gutachter bestätigt und von einer Amtsärztin dann auch übernommen worden. Oder hier habe ich einen Fall, da hat wohl einer eine endoreaktive Depression mit Versagensängsten schwerster Ausprägung. Gleicher fragt aber dann anschließend nach: Darf ich im Ruhestand im Rahmen des 610-Mark-Gesetzes ein paar Mark dazuverdienen. Wie verhält es sich mit Verdienst aus selbständiger Arbeit, wenn ich zum Beispiel ein Buch schreibe oder Büttenreden halten sollte?"

KOMMENTAR:

Der Weg in die Frührente führt über Amtsärzte wie ihn: Dr. Johannes Nießen in Hamburg. Rund zwei Stunden dauert so eine Untersuchung. In neun von zehn Fällen wird der Antrag auf Frühpension bewilligt. Lehrer machen hier den größten Teil der Kundschaft aus. Die meisten klagen darüber, ausgebrannt zu sein.

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JOHANNES NIESSEN:

(Amtsarzt)

"Daß sie nachts deswegen nicht mehr schlafen können, daß sie dann oft gar keinen Antrieb haben, morgens nicht mehr in die Schule gehen können, also Antriebslosigkeit, was auch mit eine depressive Begleiterscheinung ist. Also das sind die Sachen, die im Vordergrund stehen.

INTERVIEWER:

"Wieviele haben sich jetzt schon zur Ruhe gesetzt?"

JOHANNES NIESSEN:

"Naja, also über tausend werden es schon gewesen sein."

KOMMENTAR:

Tausend vorzeitige Pensionierungen allein durch diesen Arzt. Das kostet eine halbe Milliarde. Unstrittig ist: Die meisten Lehrer sind tatsächlich krank, aufgerieben durch einen Schulalltag, der zunehmend von Szenen wie diesen geprägt ist.

Aber die Praxis der Frühverrentung hilft nicht nur bei Krankheit, sie läßt auch Träume wahr werden. Jan Rose hat sich ein Klavier gekauft. Vor gut zwei Jahren ging der 58jährige Gesamtschullehrer in den Ruhestand. Damals erzählt er uns, warum.

JAN ROSE:

(Frühpensionierter Lehrer, 9.10.95)

"Ich habe vor fünf Jahren zum ersten Mal ein Magengeschwür bekommen, hab’ das dann, nachdem ich es auskuriert hatte, aber auch völlig übergangen wieder und nicht als Signal empfunden. Prompt stellte sich ein zweites ein. Ich hab’ mich dann genauso dusselig verhalten und im vorigen Jahr dann eben die Herzattacke gehabt. Danach war ich drei Wochen im Krankenhaus, ja, und seitdem nicht mehr in der Schule."

KOMMENTAR:

Seitdem hat sich kein Amtsarzt mehr um Jan Rose gekümmert. Auch die Schulbehörde hat ihn vergessen - Beamter a.D. Ein neues Leben begann.

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JAN ROSE:

"Am Anfang war ich vier Monate in Australien, hab’ dort sehr viele Sachen erlebt und auch vieles geschrieben, bin dann zwei Mal auf Mallorca gewesen und bin jetzt grade, am letzten Freitag, zurückgekommen aus Gomera."

INTERVIEWER:

"Wie ist das Lebensgefühl?"

JAN ROSE:

"Sehr positiv. Ich lebe inzwischen richtig gern, nachdem ich erkannt hab’, wie schön Leben eigentlich sein kann. Das hab’ ich vorher nicht so gewußt."

KOMMENTAR:

Der Frühpensionär macht jetzt Weltreisen und schreibt Reportagen. Noch vor zwei Jahren hielt ein Gutachter fest: Jan Rose ist nicht mehr belastbar. Aus dem Beamten ist ein richtiger Abenteurer geworden, auch das Herz scheint wieder gesundet.

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JAN ROSE:

"Ich hatte 16 Kilo auf dem Rücken, und das war bei der Hitze manchmal ganz schön anstrengend. Gelandet bin ich in Brisbane und bin vor dort aus bis Sidney runter mehr oder weniger getingelt. Von Sidney mit dem Flugzeug nach Tasmanien, bin dann dort rumgewandert, im Urwald und überall."

INTERVIEWER:

"Mit dem Gepäck auf dem Rücken?"

JAN ROSE:

"Ja, ja, das mußte ich ja immer mitschleppen, das ging ja nicht anders. Ein kleines Zelt war da drin, ein Moskitonetz, keine Isomatte, das wäre zu viel gewesen, ich kann auch auf blankem Untergrund schlafen, das macht mir nichts aus."

KOMMENTAR:

Alle möglichen Arbeiten kann sich Jan Rose mittlerweile vorstellen, nur zurück an die Schule will er nicht.

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JAN ROSE:

"Nicht unter diesen Bedingungen, wie Schule heute läuft, auf keinen Fall. Das würde mich gleich wieder so aufregen, dann wäre ich gleich wieder krank."

KOMMENTAR:

Ein postpädagogisches Paradies. Ein psychiatrisches Gutachten, eine amtsärztliche Untersuchung, ene-mene-mu - und raus bist du. Diese Spielregel gilt aber nur für Beamte. Fraglich, ob Jan Rose von den strengen Ärzten der gesetzlichen Rentenversicherung arbeitsunfähig geschrieben worden wäre.

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KURT BECK:

(Ministerpräsident Rheinland-Pfalz)

"Es ist sicher so, daß wir zwischen Beamten und zwischen Angestellten und Arbeitern Unterschiede haben, wo sie nicht gerechtfertigt sind, denn entweder es kann jemand noch arbeiten, oder es kann jemand nicht mehr arbeiten. Und wenn ein Maurer mit einer bestimmten Erkrankung wieder auf die Baustelle geschickt wird, mit der gleichen aber ein Beamter in Pension, dann stimmt etwas nicht, das muß korrigiert werden."

KOMMENTAR:

Ebenso ungerecht: Während der Normalbürger als Frührentner maximal 610 Mark dazuverdienen darf, ist die Frühpension für Beamte die große Chance, das Einkommen in schwindelnde Höhen zu treiben.

Beispiel: Ein Oberstudienrat, 45 Jahre, Endgehalt 7.500 Mark, geht in Frührente. Als Pension erhält er üppige 5.000 Mark. Dazuverdienen darf er, wie er will. Geht man von einem lukrativen neuen Job mit 7.000 Mark aus, werden ihm lediglich 1.500 Mark abgezogen. Unterm Strich hat er mehr als seine Kollegen an der Schule, nämlich 10.500 Mark.

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PROF. GISELA FÄRBER:

(Hochschule für Verwaltung, Speyer)

"Also ohne daß ich mir anmaße, Einzelfälle beurteilen zu wollen, kann ich als Ökonomin nur feststellen, daß das derzeitige Recht regelrecht einen Anreiz darstellt, diesen Weg zu wählen, wenn man am Arbeitsplatz nicht mehr die volle Motivation hat."

KOMMENTAR:

Nur noch 12 Prozent der Lehrer halten an der Schule bis zum bitteren Ende durch, vorzeitiger Ruhestand als Regelfall. Im Durchschnitt quittieren sie den Dienst mit 58 Jahren. Jeder dieser Fälle kostet den Steuerzahler eine halbe Million Mark extra. Dabei könnten viele von ihnen durchaus noch arbeiten, wenn nicht an der Schule, so doch in anderen Bereichen.

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JOHANNES NIESSEN:

(Amtsarzt)

"Ich schätze mal, ein Drittel, ein Viertel könnte das auch. Nach einer gewissen Erholungszeit könnte er in anderem Rahmen, unter anderen Bedingungen, ihm gemäßeren Bedingungen, auch andere Tätigkeiten durchführen."

KOMMENTAR:

Aber so etwas scheint die Beamtenlogik nicht zuzulassen. Der pensionierte Sonderschullehrer Ernst Maria Bach. Er wollte dem Steuerzahler nicht zur Last fallen. Für die Schule fühlte er sich zu krank. Aber er bat vergeblich um einen anderen Job.

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ERNST MARIA BACH:

(Frühpensionierter Lehrer)

"Als ich bei der Amtsärztin zur Untersuchung war, habe ich ihr angeboten, ich würde gerne in jedem Bereich als Beamter arbeiten. Und da wurde mir geantwortet: Sehr ehrenwert, sehr ehrenwert, aber Sie müssen ja doch wieder in Ihre Besoldungsstufe eingesetzt werden. Und ich denke, das geht nicht."

KOMMENTAR:

Einmal Lehrer, immer Lehrer, einmal A13, immer A13. Wer Landesbeamter ist, darf bei keiner Kommune arbeiten, wer frühpensioniert ist, muß eben Däumchen drehen, obwohl zum Beispiel Sozialeinrichtungen, Museen und Bibliotheken Mitarbeiter brauchen könnten.

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CAROLIN SCHWARZ:

(CDU-Landtagsfraktion Schleswig-Holstein)

"Jetzt ist ein Abrücken von starrem Bürokratismus notwendig, um eben Beschäftigungsmöglichkeiten zu eröffnen, die beide Seiten befriedigt. Ansonsten, wenn alles so bleibt, wie es ist, dann ist es wirklich ein volkswirtschaftlicher Wahnsinn."

KOMMENTAR:

Kellergeschoß der Uni Mainz, Geographisches Institut. Eine Rarität: Hier arbeitet ein ehemaliger Lehrer, Gernot Lindner. Er war schon frühpensioniert wegen einer schweren Migräne. Jetzt betreut der ehemalige Geographielehrer die Kartensammlung des Institus. Länger und hartnäckiger hat er um eine neue Beschäftigung gekämpft - gegen sture Regeln.

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GERNOT LINDNER:

"Wenn einer Oberstudienrat ist, dann ist er Oberstudienrat, und auch selbst wenn er etwas anderes könnte, er kann nicht so einfach ausgetauscht werden."

INTERVIEWER:

"Das wurde Ihnen auch so gesagt?"

GERNOT LINDNER:

"Ja. Sie sind Lehrer und sonst nichts, diesen Satz habe ich mehrmals in dieser Fassung gehört."

KOMMENTAR:

Seine Arbeitskraft, so erzählt er, mußte er regelrecht aufdrängen. Zwei Jahre hat es gedauert, bis er den Arbeitsplatz hier sicher hatte. In seiner Hartnäckigkeit, die Frühpension zu vermeiden, kam er sich fast wie ein Sonderling vor."

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GERNOT LINDNER:

"Ich glaube, das war schon eine große Ausnahme. Es haben viele Leute, nicht nur Kollegen, gesagt: Du bist ja blöd, jetzt warst du schon in Rente, und jetzt willst du wieder zurück und nimmst das alles wieder auf dich. Das war so der Tenor. Es ist heute einfach die Zeit, daß man sich beruflich umorientiert. Und wenn das auch jetzt die Beamtenschaft erfaßt, ist das nicht sonderlich ungerecht, finde ich, und ich bin froh, daß ich diese Chance gehabt habe."

KOMMENTAR:

Chancen, von denen die Politik seit Jahren redet. Die Praxis - noch mutet sie kümmerlich an: Zusammen mit Gernot Lindner haben in Rheinland-Pfalz gerade mal fünf Lehrer eine neue Arbeit gefunden.

Abmoderation:

PATRICIA SCHLESINGER:

Da müßte Abhilfe aus Bonn kommen. Aber dort gibt es zur Zeit größere Probleme - nur auch die werden nicht gelöst.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 20.11.1997 | 21:00 Uhr