Unter Beschuß - Bundeswehrrakete gefährdet Zivilisten und eigene Truppen

von Bericht: Edith Heitkämpfer und Christoph Mestmacher

Anmoderation:

PATRICIA SCHLESINGER:

Angehörige der Luftwaffe stehen vor einem ECR Tornado © ARD/Panorama Foto: Screenshot

Stolz war die deutsche Luftwaffe auf ihre Tornados, bestückt mit den in den USA gekauften Raketen - modernste Wunderwaffentechnik eben, und die war für Bundesverteidigungsminister Volker Rühe damals das schlagende Argument. Mit Hinweis auf die Einzigartigkeit dieser Waffe setzte er den ersten Auslandseinsatz der deutschen Kampfpiloten durch. Aber statt Stolz gibt's auf der Hardthöhe Erklärungsnotstand - seit heute. Denn diese Raketen sind offensichtlich ein Sicherheitsrisiko, für die eigene Truppe und für die Zivilbevölkerung. Sie treffen eher zufällig, und so landen sie statt beim Feind auch gerne mal beim Freund. Das geht aus einem Geheimpapier vor, das uns hier vorliegt, denn eigentlich sollte diese gefährliche und beschämende Tatsache verheimlicht werden, vor dem Bundestag und vor uns, der Bevölkerung.

Bundeswehrrakete gefährdet Zivilisten und eigene Truppen
Ein Bericht von 1997 über die Unzuverlässigkeit der Radarabwehrrakete vom Typ Harm - eingesetzt wird sie trotzdem.

Edith Heitkämpfer und Christoph Mestmacher berichten.

KOMMENTAR:

Vor wenigen Tagen im bayerischen Lechfeld: das Prunkstück der Luftwaffe, der ECR-Tornado, jederzeit einsetzbar für die Bosnienmission der Bundeswehr, bestückt mit der vermeintlich intelligenten Waffe, der HARM. Die Waffe sei wichtig, lobt die Bundesregierung. Jederzeit kann es wieder losgehen, Richtung Bosnien. Hoffentlich kommt der Befehl nicht, er könnte in die Katastrophe führen. So steht es in geheimen Papieren des Verteidigungsministeriums, die PANORAMA vorliegen. Ihr Einsatz sei, so heißt es - Zitat: "... eine Gefährdung der Zivilbevölkerung und eigener Truppen". Doch eben diese Tornados samt HARM fliegen seit fast zwei Jahren Kampfeinsätze über Bosnien. Ihr Auftrag: Schutz der NATO-Truppen im ehemaligen Jugoslawien und Zerstörung serbischer Radaranlagen, obwohl die Hardthöhe intern schon lange weiß: HARM trifft das Ziel eher zufällig. Zitat: "Beim Einsatz in Bosnien sind mindestens zwei HARM im befreundeten Ausland eingeschlagen". Nach PANORAMA-Recherchen schlugen die Raketen in Ungarn ein. Unklar, ob sie von deutschen, amerikanischen oder italienischen Flugzeugen abgefeuert wurden. Die uns vorliegenden Dokumente belegen zweifelsfrei: Das Verteidigungsministerium wurde über die gravierenden Schwachstellen von HARM informiert. Doch anstatt das Waffensystem stillzulegen, wird im Lechfeld gefeiert. Die Helden aus Bosnien gratulieren sich und sind stolz auf ihre intelligenten Waffen. Kein Wort nach außen, das Risiko blieb unter Verschluß. Das bedeutet: Nicht einmal die Mitglieder der zuständigen Bundestagsausschüsse wurden von der Hardthöhe informiert.

Vor wenigen Stunden in Bonn. Wir konfrontieren die Tornado-Experten des Parlaments mit den PANORAMA-Recherchen.

0-Ton

INTERVIEWER:

"Wie fühlt man sich in einer solchen Situation als Mitglied des Deutschen Bundestages, der ja eine Kontrollfunktion ausüben soll?"

OSWALD METZGER:

(Bündnis 90/Die Grünen)

"Verarscht, auf gut Schwäbisch."

0-Ton

ANGELIKA BEER:

(Bündnis 90/Die Grünen)

"Das ist ein fassungsloser Vorgang. Ich glaube, daß es auch einmalig ist in der Geschichte der Bundesrepublik."

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UTA ZAPF:

(SPD-Verteidigungsexpertin)

"Welche Unverantwortlichkeit für das Leben von Menschen dahintersteht, dieses Waffensystem dann so fliegen zu lassen, da ist mir eigentlich gar nichts mehr eingefallen, da kann einem nur schwarz vor Augen werden."

KOMMENTAR:

Seit zehn Jahren kaufen die Deutschen von den Amerikanern die unberechenbaren HARM-Raketen, Stückpreis: 500.000 Mark. Dabei weiß die USA schon lange, daß ihre Waffe nur jedes vierte Mal trifft. Spätestens seit dem Golf-Krieg wissen die Militärs, daß die HARM-Rakete ohne weiteres zum Selbstmordkommando werden kann, weil die Steuerung versagt. Zitat: "Dies hat bereits im Golf-Krieg zu einem Treffer auf einem eigenen US-Schiff geführt". Seit Herbst 1995 kennt das Verteidigungsministerium die Gefahr, und trotzdem starteten die Tornados über 900 mal Richtung Bosnien.

Gestern, später Nachmittag, vor dem Bonner Verteidigungsausschuß. Warten auf den Verantwortlichen, Warten auf Verteidigungsminister Volker Rühe. Kein Kameraüberfall, wir bemühen uns um ein offizielles Interview zum Thema Einsatzbereitschaft HARM. Der Pressesprecher lehnt ab. Wir haben ihm ein Zitat aus den geheimen Hardthöhen-Unterlagen überreicht, um die Brisanz des Themas zu unterstreichen. Die PANORAMA-Recherchen versetzen den Rühe-Sprecher in sanfte Panik. Sofort startet er die Suche nach den ihm unbekannten Informationen aus seinem Ministerium. Denn das Ministerium, so heißt es bis zu diesem Zeitpunkt, kennt keine Probleme mit HARM.

Ein Tornado-Werbefilm zeigt die wunderbare Funktionsweise von HARM. HARM - eine intelligente Rakete, so der Werbefilm, die feindliche Radarstationen aufspüren und zerstören soll.

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WERBEVIDEO:

"Weit vor dem Ziel verläßt HARM das Flugzeug, zerstört das feindliche Radar und macht die gegnerische Luftabwehr somit unwirksam."

KOMMENTAR:

Doch was passiert, wenn das feindliche Radar ausgeschaltet wird, ist alles andere als intelligent, es ist verheerend. Zitat: "Der HARM fliegt unkontrolliert weiter und detoniert beim Aufschlag."

So der interne Stand der Luftwaffe.

Der Pressesprecher hat für's erste genug telefoniert, die Verwirrung ist perfekt. Mittlerweile hat er seinen Minister informiert. Rühes Strategie wird schnell klar: Abwiegeln, wir sollen einen anderen suchen.

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VOLKER RÜHE:

"Das müssen Sie einen anderen suchen, mit solchen technischen Fragen."

KOMMENTAR:

Nur technische Fragen? Zitat: "Bei HARM-Einsätzen ist systembedingt die unbeabsichtigte Bekämpfung ziviler Einrichtungen und der Bevölkerung sowie eigener und neutraler Einrichtungen und Truppen nicht auszuschließen."

Nach den PANORAMA-Recherchen Diskussionen in der Bundestagslobby - HARM und die Folgen.

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UTA ZAPF:

(SPD-Verteidigungsexpertin)

"Dann muß als erste Forderung natürlich kommen, dieses Waffensystem stillzulegen. Es kann nicht sein, daß weiter geflogen wird. Dann muß alles schonungslos offengelegt werden, die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Und wenn der Minister was gewußt hat, dann muß er zurücktreten."

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ANGELIKA BEER:

(Bündnis 90/ Die Grünen)

"Die militärische Führung hat versagt und möglicherweise auch die politische Führung."

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OSWALD METZGER:

(Bündnis 90/Die Grünen)

"Rühe lobt sich ja immer, daß alles getan wird für die Sicherheit der deutschen Soldaten, die dort eingesetzt sind, und zum Schutz der Zivilbevölkerung. Und beide Voraussetzungen sind nicht erfüllt, wenn das zutrifft, was Sie mir sagen."

KOMMENTAR:

Trotz allem üben die ECR-Tornados weiter mit der HARM über Deutschland - für den Ernstfall.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 26.06.1997 | 21:00 Uhr