Mein Feind, der Nachbar - Alltag beim Amtsgericht

von Bericht: Klaus Scherer

Anmoderation:

PATRICIA SCHLESINGER:

Nachbars Nachwuchs macht Dreck im Treppenhaus, Lumpi bellt zu laut, die Würstchen auf dem Grill stinken, und nach Mitternacht wird noch geduscht. Irgendwelche Paragraphen finden sich dann auch, die solche Sachen zu gerichtlichen machen, denn im Zeitalter der Rechtsschutzversicherungen ist man gefeit gegen jede noch so abwegige nachbarliche Unflätigkeit und überhaupt gegen jede Lebensnot. Da werden Zivilprozesse zu Veranstaltungen der Anwaltschaft, und unsere Gerichte sind lahmgelegt, weil jeder pingelige Nörgler vor den Kadi ziehen kann, statt sich vielleicht beim Bier zu einigen. Die Bundesrepublik hat mit 28 Richtern pro 100.000 Einwohner die höchste Richterdichte der Welt, und sie haben mehr zu tun denn je. Sind wir ein Volk von Kleingeistern und Prozeßhanseln, daß sich sein Recht mit deutscher Gründlichkeit um jeden Preis erstreitet? Dem ist wohl so.

Mein Feind, der Nachbar - Alltag beim Amtsgericht
Ein Bericht von 1997 aus dem Alltag des Amtsrichters Ludolf von Saldern am Amtsgericht Berlin-Köpenick.

Klaus Scherer hat sich den Alltag eines Amtsrichters in Berlin-Köpenick angesehen.

KOMMENTAR:

Das Amtsgericht Berlin-Köpenick zu Beginn eines normalen Arbeitstages - zum Beispiel für das Team des Amtsrichters von Saldern. Gut zehn Fälle liegen hier bis heute mittag an: Entscheidungen im Viertelstundentakt. Etwa über einen Streit zwischen dem Eisenbahn-Sportverein Lok Schöneweide, Abteilung Sport mit Hund, und der Bundesrepublik Deutschland - in Gestalt eines abbruchreifen Trafo-Häuschens.

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FRAU:

"Das Bundesamt für Straßenwesen hat diese Trafo-Station damals gebaut, uns mit angeschlossen, wir wissen nicht, aus welchem Grund und warum wir da mit angeschlossen sind. Und wenn das Häuschen abgerissen werden soll, steht unser Sportheim ohne Strom und ist praktisch zum Untergang verurteilt."

KOMMENTAR:

Ein Fall, der sich offenbar auch bei einer Tasse Kaffee hätte lösen lassen, denn als die Vertreterin der Bundesrepublik erscheint, einigen sich die beiden Frauen schon nach kurzer Zeit im Flur. Noch gut einen Monat bleibt das Häuschen stehen, Zeit genug für einen neuen Stromanschluß.

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INTERVIEWER:

"Sie haben sich jetzt eben zum ersten Mal gesehen?"

FRAUEN:

"Ja."

INTERVIEWER:

Wie kommt es, daß Sie vorher nicht miteinander Kontakt aufnehmen konnten?"

FRAU:

"Kontakt hatten wir, schriftlich."

KOMMENTAR:

Wenig später schildern sie die freudige Annäherung denn auch vor dem Richter. Schön für ihn, so friedfertig geht es nicht immer zu. Die Zahl der Streitfälle in Köpenick hat seit dem Vorjahr um ein Drittel zugenommen. Beispiel Familienkrach mit Handwerkerverletzung.

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LUDOLF VON SALDERN:

(Amtsrichter)

"Wir hatten da schon mehrere Fälle beim Amtsgericht, wo Mann und Frau sich trennen und, um den jeweils anderen aus der Wohnung auszuschließen, das Schloß austauschen. Und das ist manchmal so weit gegangen, daß also ein Schlüsseldienst mehrfach tätig war, einmal abwechselnd für den Mann, der die Frau ausschließen wollte, dann kam wieder die Frau, beauftragte den Schlüsseldienst und sperrte den Mann aus. Und dann kam es aber, als nun wiederum ein Schlüsseldienstmitarbeiter im Auftrage der Frau das Schloß austauschen wollte, zu einer Handgreiflichkeit mit dem Ehemann, der nämlich gerade erschien, um seinerseits mit dem frisch ausgetauschten Schloß in die Wohnung zu gelangen. Und das gab also eine Auseinandersetzung, wo beide verletzt wurden."

KOMMENTAR:

Die Folge: Schlüsselmann und Ehemann klagten wechselseitig auf Schmerzensgeld von jeweils 1.000 Mark, und mangels Zeugen bekamen beide recht - womit der Fall aber noch lange nicht erledigt war.

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LUDOLF VON SALDERN:

"Da hätte man natürlich auch sich einigen können, daß eben man das verrechnet und keiner mehr was kriegt. Aber da war natürlich keiner bereit, weil ja jeder auf dem Standpunkt stand: Er ist unschuldig, und nur der andere muß zahlen."

INTERVIEWER:

"Und was passierte dann?"

LUDOLF VON SALDERN:

"Beide wurden verurteilt. Und dann sieht das so aus, daß jeder einen Gerichtsvollzieher beauftragen kann und beim anderen vollstrecken kann, pfänden. Und die laufen dann wirklich beide los und überkreuzen sich geradezu, der eine Gerichtsvollzieher geht zum Beklagten, also zum Ehemann, und der andere geht zum Schlüsseldienstmitarbeiter, und die kreuzen sich quasi auf der Straße und können sich grüßen."

KOMMENTAR:

Mitunter, etwa im Köpenicker Märchenviertel, muß das Gericht auch raus zum Ortstermin, um festzustellen, ob nur eine Hecke eine Hecke ist oder auch so eine Reihe Fichten. Als Hecke nämlich dürften die Bäume nur zwei Meter hoch sein, dann hätte der Nachbar weiter volle Sonne. Ein Kompromiß wäre mit etwas gutem Willen sicher möglich, nur nicht bei zwei Metern.

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MANN:

"Weil der Habitus des Baumes ist einfach zerstört."

INTERVIEWER:

"Reden Sie noch miteinander?"

MANN:

"Das Nötigste."

KOMMENTAR:

Ein paar Straßen weiter, wo alles nach zwei friedlichen Hausbewohnern aussieht, tobte zuvor der Briefkastenkrieg.

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LUDOLF VON SALDERN:

"Es gab eine Vereinbarung, daß jetzt jeder eine Wohnung im Hause bewohnte - das Haus hatte zwei Wohnungen - und daß man den Garten in der Weise sich aufteilte, daß man also eine Linie von der Haustür zur Gartenpforte zog, und der eine sollte links und der andere sollte rechts von diesem Weg den Garten nutzen. Aber weil der eine auf der Seite des anderen noch seinen Briefkasten am Zaun hängen hatte, einigte man sich so, daß der Briefkasten dort hängen bleiben durfte. Eines Tages hing jetzt der Kläger seinen Briefkasten ab, um nämlich einen erheblich größeren Briefkasten hinzuhängen, weil er nämlich als Schriftsteller sehr viel Post erhielt."

KOMMENTAR:

Weil der große Kasten dem Mitbewohner aber zu groß war, wollte er den Schriftsteller nun doch auf dessen Zaunseite verweisen, wo irgendwie auch genug Platz gewesen wäre. Der Schriftsteller zog schließlich vor Gericht und verlor prompt am Ende den Prozeß, eben weil, wie man hier heute noch bestätigt, der neue Kasten wirklich sehr viel größer war.

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FRAUENSTIMME:

"Der Briefkasten sollte doppelt so groß sein und doppelt so breit wie ein normaler Briefkasten und war aus Holz gebaut."

KOMMENTAR:

Was, so fragt man sich, steckt hinter der Prozeßflut an den Amtsgerichten? Die Klagefreudigkeit der Deutschen, sagt der Richter, die zunehmende Rechtsschutzdichte und die Zahl der Anwälte.

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LUDOLF VON SALDERN:

"So haben wir seit der Wende eine Verdoppelung der Rechtsanwälte in Berlin, es sind jetzt 6.000, es waren vor sieben Jahren nur 3.000, es ist also enorm. Und natürlich hat jeder Rechtsanwalt seinen Bekanntenkreis, und das sind ja seine Mandanten."

KOMMENTAR:

Trotzdem, so der Richter, muß er jeden Fall, den er entscheidet, ernst nehmen, und er versichert, sein Mitgefühl gilt allen - auch beispielsweise jenem liebevollen Ex-Besitzer eines Pinschers.

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LUDOLF VON SALDERN:

"Da ging jemand mit seiner Dogge auf dem Bürgersteig spazieren, und innerhalb eines Gartens, also hinter dem Gartenzaun - der hatte aber wohl offensichtlich groß genügende Öffnungen, zum Beispiel einen Jägerzaun, ich weiß es nicht mehr genau - kläffte also ein Pinscher direkt hinter dem Zaun. Und diese Dogge fühlte sich also nun gestört und schnappte zu und zog diesen Pinscher praktisch durch den Zaun heraus, aus dem Garten heraus, und biß den also tot."

KOMMENTAR:

Klarer Fall: Dogge schuldig, Halter zahlt. Familie Pinscher allerdings rüstete nun auf zum Staatsbegräbnis.

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LUDOLF VON SALDERN:

"Das Kuriose an dem Fall war, daß die Kläger nicht nur den Wert des Hundes einklagten, sondern eben auch noch zusätzlich die Kosten einer Tierbestattung. Und da gibt es also ein extra Tierbestattungsinstitut, das also eine richtige Beerdigung feiert und zelebriert, wahrscheinlich mit Sarg und allen Schikanen, und das überstieg den Wert des Hundes um ein Vielfaches. Und die erschienen dann also auch zum Gerichtstermin mit einem Bilderrahmen in Silber, wo also um die Ecke des Bilderrahmens ein schwarzes Band, ein Trauerflor praktisch, angebracht war. Auf dem Bild war dieser Hund dargestellt. Sie stellten dieses Bild auf den Richtertisch und äußerten, dieser Hund sei ihr einziges Kind gewesen."

KOMMENTAR:

Sowas erzählt er dann nach Dienstschluß auch schon mal gern zu Hause - freilich ohne Namensnennung.

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LUDOLF VON SALDERN:

"Man kann diese Fälle ja fast erzählen wie Witze: Da kam einer, und kennst du den schon...."

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 30.10.1997 | 21:00 Uhr