Empörung über Gerichtsbeschluß - Mutmaßlicher Kinderschänder auf freiem Fuß

von Bericht: Gita Ekberg und Thomas Berbner

Anmoderation:

PATRICIA SCHLESINGER:

Kinder vergewaltigen, Kinder sexuell mißbrauchen - es gibt wohl kaum etwas Widerlicheres. Wie schwer es ist, da wahre und falsche Behauptungen auseinanderzuhalten, hat uns vor wenigen Tagen das Urteil des sogenannten Wormser Kinderschänderprozesses gezeigt. Eifernde Rechercheure, die im Zweifel für den Mißbrauch waren, hatten den Kindern Beschuldigungen in den Mund gelegt. Wahrheitsförderung wird da schnell zur Inquisition. Das Gericht sprach alle Angeklagten frei, aber auf dem juristischen Schlachtfeld blieben 16 Kinder zurück, die seit fast vier Jahren in Heimen oder bei Pflegeeltern leben. Nach dem Wormser Urteil ist es noch ein wenig schwerer geworden, Kinder vor sexuellen Übergriffen und oft folgenden Repressalien zu schützen. Denn - und das zeigt, so wie's aussieht, ein Hamburger Fall - Kinderschänder könnten die Lehren aus Worms jetzt für sich ausschlachten.

Mutmaßlicher Kinderschänder auf freiem Fuß
Ein mutmaßliche Hamburger Kinderschänder, ehemaliger Kinderbetreuer, ist 1997 wieder auf freiem Fuß.

Gita Ekberg und Thomas Berbner berichten.

KOMMENTAR:

Worms, 17. Juni. Für sieben Angeklagte geht ein Spießrutenlauf zuende. Freispruch. Ihnen wurde vorgeworfen, die eigenen Kinder sexuell mißbraucht zu haben - zu Unrecht, wie sich herausstellte. Übereifrige Staatsanwälte und Kinderschützer hatten den Kindern die Vorwürfe in den Mund gelegt. Der Richter entschuldigt sich bei den Angeklagten. Gleichzeitig befürchtet er, Kinderschänder könnten sich künftig hinter dem Fall Worms verstecken.

Keine zwei Wochen später in Hamburg. Der frühere Kinderbetreuer Olaf Röttger ist gerade aus der U-Haft entlassen worden. Dort saß er, weil ihm Kindesmißbrauch vorgeworfen wurde.

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OLAF RÖTTGER:

"Also ich sehe mich durchaus als das Worms von Hamburg. Ich bin einerseits das Opfer von Mitarbeitern des Jugendamtes, die voller Vorurteile gegen mich sind und einfach nicht objektiv genug an den Fall Röttger herangehen, andererseits auch als Opfer von Mitarbeitern der Ermittlungsbehörden, die ebenfalls voller Vorurteile gegen mich sind und auch nicht mit der nötigen Objektivität an die Sache Röttger herangehen."

KOMMENTAR:

Rückblick: 15. Juni vergangenes Jahr. Tagelang durchkämmen Feuerwehr und Polizei Wälder in Schleswig-Holstein. Sie suchen den zehnjährigen Philipp. Das Heimkind wird vermißt. Ein Tip aus der Stricherszene vom Hamburger Hauptbahnhof führt zu einem Mann, der dort und bei der Polizei kein Unbekannter ist: Olaf Röttger, gegen den die Staatsanwaltschaft in mehreren Fällen wegen Kindesmißbrauch ermittelt. Die Spur führt die Fahnder in ein Haus im Süden Hamburgs. Nach 13 Monaten Suche finden die Beamten Philipp in dieser Wohnung. Der Junge ist völlig verwahrlost. Olaf Röttger wird in Anwesenheit seiner Lebensgefährtin festgenommen.

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HEIDI K.:

"Da haben die hier gegen die Tür geklopft, anschließend haben sie die Tür aufgetreten, Herrn Röttger im Badezimmer festgenommen, und der Philipp war hier im Zimmer gewesen."

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REINHARD FALLAK:

(Polizei Hamburg)

"Philipp war eigentlich froh, daß das für ihn ein Ende gefunden hat, das heißt, er ist dann sofort in die Obhut der Kriminalbeamten gekommen und hat dann in der anschließenden Vernehmung im Polizeipräsidium per Video-Dokumentation den mehrfachen sexuellen Mißbrauch von Röttger zeugenschaftlich angegeben."

KOMMENTAR:

Zwei Monate später, Haftprüfungstermin. Röttger kommt frei, Philipp hat seine Aussagen über den sexuellen Mißbrauch zurückgezogen. Die Ermittlungen gegen Röttger laufen seit 16 Jahren. Mehr als dreißig Kinder haben ihn in diesem Zeitraum belastet.

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OLAF RÖTTGER:

"Ich kann also dazu nur sagen, daß es zu keinem Zeitpunkt durch meine Person einen sexuellen Mißbrauch gekommen ist, daß ich auch zu keinem Zeitpunkt jemand in meiner Wohnung eingeschlossen habe, was allein dadurch unmöglich ist, ich muß ja auch irgendwann mal die Wohnung verlassen, daß ich Telefon habe, daß ich Nachbarn habe, mehrere Nachbarn, die die Kinder um Hilfe hätten bitten können."

KOMMENTAR:

Patrick war zehn Jahre alt, als er aus dem Kinderheim ausriß. Röttger hat ihn monatelang in seiner Wohnung festgehalten.

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PATRICK S.:

"Die erste Zeit konnten wir noch morgens wieder raus, sind wir noch über den Tag weg gewesen, in der Stadt und so. Abends sind wir denn wieder hin. Das ging genau 'ne Woche, und ab da hat er dann die Tür abgeschlossen. Und dann mußte einer in einer Nacht immer bei ihm im Bett mit schlafen."

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OLAF RÖTTGER:

"Gesetze sind für mich Gesetze, und wenn es nicht zum Wohl eines Menschen ist, übertrete ich die Gesetze, bin ich auch bereit dazu, denn ich schade niemandem, im Gegenteil, ich nütze diesem Kind, was sonst auf der Straße liegen würde."

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PATRICK:

"Einen Freund von mit hat er betatscht und hat den auch von hinten gefickt, sag' ich jetzt mal. Und die nächste Nacht kam dann der andere, Michael ..., und darauf die Nacht kam ich dann dran. Bei alle drei hat er dasselbe gemacht."

INTERVIEWER:

"Habt ihr euch gewehrt?"

PATRICK:

"Konnten wir nicht, der hat uns 'ne Neun-Millimeter an den Schädel gehalten und meinte, wenn wir da jemals wieder rauskommen und wenn wir ihn verpetzen, dann bringt er uns um."

KOMMENTAR:

Patrick hat vor dem Staatsanwalt ausgesagt und ist bis heute bei seiner Schilderung geblieben. Röttger behauptet, Patrick und den anderen Kindern seien die Aussagen in den Mund gelegt worden."

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OLAF RÖTTGER:

"Ich muß dazu erwähnen, daß, als ich Kontakt hatte, daß die im Durchschnitt zwischen zehn und vierzehn, fünfzehn Jahre alt waren, und als sie die letzten Aussagen gemacht haben, daß die meisten volljährig waren, teilweise selber Kinder schon hatten, verheiratet waren, so daß sie durch nichts unter Druck standen, und ganz klar geäußert haben, daß es also nie zu sexuellen Handlungen gekommen ist."

KOMMENTAR:

André ist längst volljährig, 25 Jahre alt. Heute lebt er wieder bei seiner Familie. Er war in Patricks Alter, als er Röttger kennenlernte. Zusammen mit 14 anderen Kindern war er in Röttgers Einzimmerwohnung eingesperrt.

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ANDRÉ KOSCHE:

"Mir kam es immer schon komisch vor, weil er denn oft auch Küßchen gab, aber auf Zunge, und das mochte ich nicht, weil er so Mundgeruch hatte. Dann hat er immer gesagt, daran muß ich mich schon mal gewöhnen, wenn ich bei ihm bleiben will und es also besser haben will, das ist zwischen Vater und Sohn so."

KOMMENTAR:

Auch André sagt, er sei mehrfach von Olaf Röttger vergewaltigt worden. Vor Gericht hat man ihm nicht geglaubt. Bis heute ist es der Staatsanwaltschaft nicht gelungen, Röttger zu überführen. Ist sein Fall ein Paradebeispiel für die Schwierigkeit, Kindesmißbrauch nachzuweisen, oder dafür, daß ein Staatsanwalt wie in Worms einseitig ermittelt?

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RÜDIGER BAGGER:

(Staatsanwaltschaft Hamburg)

"Es liegt die Sache ganz anders, die Kinder sind gerade der Obhut der Eltern durch illegale Mittel langzeitig entzogen worden durch Herrn Röttger. Und dann taucht die Frage auf: Sind sie auch sexuell mißbraucht worden. Diese Aussagen stammen dann von den Kindern selbst, ohne daß man jetzt gesagt hat, da könnte was sein, sondern wir haben ja die Erkenntnisse direkt von den Kindern. Und diese ganze Geschichte läßt sich also überhaupt nicht vergleichen, und insofern ist das, was Herr Röttger in diesem Zusammenhang sagt, schon fast zynisch."

KOMMENTAR:

Wieviel Zynismus in solchen Fällen steckt, zeigt das Beispiel von Philipp. Seine Aussage, Röttger habe ihn mißbraucht, wurde von der Polizei auf Video festgehalten, um ihm weitere Vernehmungen zu ersparen. Doch das Video kann die persönliche Aussage des Kindes vor Gericht nur ersetzen, wenn auch der Beschuldigte zustimmt. Im Fall Röttger war das Ergebnis vorherzusehen: er lehnte ab. Beim Anhörungstermin steht Philipp Fremden gegenüber: dem Richter, dem Staatsanwalt, Protokollführern - für den Rechtsanwalt des Angeklagten die einzige Chance, seinen Mandanten rauszupauken. Entsprechend rücksichtslos laufen solche Vernehmungen in der Regel ab. Philipp widerruft.

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RÜDIGER BAGGER:

(Staatsanwaltschaft Hamburg)

"Das Kind empfindet das im Grunde genommen als eine bedrohliche Situation, zumal es schon einmal ausgesagt hat, hat dann das Empfinden, man glaubt ihm nicht. Gleichzeitig hat es seine inneren Empfindungen durch diese Erlebnisse, gleichzeitig besitzt es nicht die Eloquenz, Widersprüche werden aufgedeckt in, ich sag' mal, brutaler Form zum Teil durch die Befragung. Und das führt dann dazu, daß wir einen Wandel der Aussage haben oder ein Dichtmachen des Zeugen, daß er sagt: Ich will nicht mehr. Das ist genau unser Problem, damit kommen wir dann nicht zur Überführung des Beschuldigten und scheitern in der Beweissituation."

KOMMENTAR:

Auch André scheiterte vor Gericht. Als er seinerzeit in der Gewalt von Röttger war, ließ der ihn eine Erklärung unterschreiben, daß er nicht sexuell mißbraucht werde. Als es zum Prozeß kam, hielt Röttgers Anwalt dem Kind das Papier unter die Nase - André brach ein.

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ANDRÉ:

"Ich kann mich noch genau dran erinnern, wie ich sagte, daß das wahr ist. Da haben wir uns gezankt hin und her. Er sagte, das ist nicht wahr, und ich sagte, das ist doch wahr, und er sagte, das ist nicht wahr, du hast es ja auch hier geschrieben, und warum sagst du das jetzt, und damals hast du das ja auch nicht gesagt. Und er wurde richtig laut. Und dann hab' ich gesagt: Naja gut, ich hab' gelogen, hin und her. Und dann saß ich nur noch die ganze Zeit da und hab' nichts mehr gesagt und wollte nur noch raus."

KOMMENTAR:

Die Akte André ist geschlossen. Wie so oft mußten Staatsanwälte mit ansehen, wie ihre kleinen Zeugen dem Druck des Verfahrens nicht standhalten

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 26.06.1997 | 21:00 Uhr