Kommentar

Stand: 08.11.17 10:59 Uhr

G-20-Verfahren: überfordert ein junger Italiener die Hamburger Justiz?

von Stefan Buchen
Fabio V.

Der Italiener Fabio V. gibt in seiner ersten Erklärung vor Gericht an, aus politischer Überzeugung beim G20-Gipfel in Hamburg demonstriert zu haben.

"Ich bin hier, weil ich politisch bin." So könnte man die Erklärung zusammenfassen, die der 18-jährige Italiener Fabio V. am Dienstag (07.11.) vor dem Amtsgericht Altona abgab. Der wegen angeblicher Gewalttaten Angeklagte, der kurz vor Beginn des G-20-Gipfels am Rande einer von der Polizei aufgelösten Demonstration festgenommen worden war und seitdem in Untersuchungshaft sitzt, begründete in seiner ersten Äußerung vor Gericht, warum er am Abend des 06. Juli nach Hamburg gereist war.

Haltung zeigen gegen die "Mächtigen der Welt"

Er habe gegen die "Mächtigen der Welt", die sich selbstherrlich "G 20" nennen würden, demonstrieren wollen. Die Politik dieser Mächtigen gefährde "unsere Zukunft". Trump, Putin, Erdogan, "die saudische Regierung, die den Terror unterstützt", was aber keine westliche Regierung davon abhalte, mit ihr Geschäfte zu machen: gegen all diese habe er in Hamburg Präsenz zeigen wollen.

In seiner Heimat am Südrand der Alpen habe er beobachtet, wie Unternehmen aus Profitsucht die Umwelt zerstörten, wie Landschaft dem "Massentourismus" und "Militärübungsplätzen" geopfert werde. "Fast banal" sei es zu wiederholen, dass inzwischen 1 Prozent der Weltbevölkerung mehr besitzen als die übrigen 99 Prozent.

In einem anderen Zahlenbeispiel: 85 Personen besäßen so viel für die arme Hälfte der Menschheit: 3,5 Milliarden. Zum Schutz vor den Armen fiele den Reichen nichts anderes ein, als immer neue Zäune und Grenzanlagen zu bauen. Der 18-Jährige scheint sagen zu wollen: seht her, ich habe mir meine Gedanken gemacht.

Keine Äußerung zu Tatvorwürfen

Der Angeklagte sagt, er sei "gegen Gewalt". Ansonsten schweigt er zu den konkreten Tatvorwürfen "schwerer Landfriedensbruch", "versuchte schwere Körperverletzung" und "tätliche Angriffe auf Vollstreckungsbeamte." Zu der Demo überwiegend vermummter Gipfelgegner, nach deren Auflösung er festgenommen wurde, möchte er sich nicht äußern.

G20-Vorfall am Rondenbarg: das Polizeivideo
Sehen Sie hier das Polizeivideo eines Vorfalls vom G20-Gipfel, bei dem mehrere Menschen verletzt wurden. Ein Beschuldigter saß über vier Monate in Untersuchungshaft.

Aus dem Protestzug, der sich früh morgens durch ein Industriegebiet im Westen Hamburgs Richtung Innenstadt bewegte, wurden laut Anklage 18 Gegenstände auf die herannahenden Polizisten geworfen. Aber selbst die Staatsanwaltschaft beschuldigt Fabio nicht, eigenhändig Gewalt ausgeübt zu haben. Die Anklage beruht allein darauf, dass der junge Fabrikarbeiter aus Italien an jenem Protestzug teilgenommen habe.

Ausübung von Gewalt im Vordergrund?

Der Angeklagte schweigt also zu den konkreten Umständen der Demo am Morgen des 07. Juli. Dennoch widerspricht seine heutige Erklärung vor Gericht einer Kernaussage der Ankläger: dass es Leuten wie Fabio um die "Ausübung von Gewalt", "die Begehung von Straftaten" und nicht um die "Vermittlung politischer Botschaften" gehe.

In der Anklageschrift, die Panorama vorliegt, heißt es: "Etwaige in den gerufenen Sprechchören (wie `A..Anti...Anti-Kapitalista´) und den getragenen Transparenten (´Kapitalismus zerschlagen - Gegenmacht aufbauen´) zum Ausdruck kommende politische Anliegen treten jedenfalls in den Hintergrund."

Werden die Strafverfolger Erfolg damit haben, Fabio als einen Randalierer zu überführen, der Autos angezündet und Geschäfte geplündert hat? Schützenhilfe bekamen sie von der BILD-Zeitung, die Fabio als "G-20-Chaoten" brandmarkte.

Freilassung nach Geständnis

Die Staatsanwaltschaft setzt auf das Druckmittel der Untersuchungshaft. Die dauert für Fabio nun schon vier Monate. In einem Schreiben an seine Verteidigerin schlägt die Staatsanwaltschaft einen Deal vor: wenn der Angeklagte sämtliche Tatvorwürfe eingestehe, sei seine Freilassung aus dem Gefängnis "wahrscheinlich".

Auf Nachfrage von Panorama wird die Absendung des Schreibens von einer Sprecherin der Staatsanwaltschaft bestätigt: "Die Staatsanwaltschaft hält danach bei einem Geständnis, das grundsätzlich strafmildernd zu berücksichtigen ist, eine Bewährungsstrafe (und damit die Entlassung aus der Untersuchungshaft) für wahrscheinlich," teilte die Sprecherin mit.

Bleibt die schwierige Frage: was soll der Angeklagte genau gestehen? Tätliche Angriffe auf Vollstreckungsbeamte? Versuchte schwere Körperverletzung? Schweren Landfriedensbruch? Soll er sagen, dass er Steine, Flaschen und Brandsätze geworfen hat, obwohl er laut Anklage keine geworfen hat? Die Hamburger Staatsanwaltschaft scheint hier vom Angeklagten eine Selbstbezichtigung, eine "Selbstkritik", zu verlangen.

Hamburger Oberlandesgericht bestätigt Haftbefehl

Rückenwind bekommen die Strafverfolger bislang von den Richtern. Das Hanseatische Oberlandesgericht (OLG) hat den Haftbefehl gegen Fabio bestätigt, weil die "absehbar empfindliche Freiheitsstrafe" einen Fluchtanreiz darstelle. Der Vorsitzende des zuständigen OLG-Senats Marc Tully und seine Kollegen führten aus, dass Fabio selbst dann eine Gefängnisstrafe werde verbüßen müssen, wenn Jugendstrafrecht angewandt werde. Anders seien seine "Anlage- oder Erziehungsmängel" und seine "tiefsitzende Gewaltbereitschaft" nicht zu beheben.

Tully hat den Haftbeschluss vor Eröffnung der Hauptverhandlung in einer juristischen Fachzeitschrift veröffentlicht. Darin sieht Fabios Verteidigerin Gabriele Heinecke eine Vorverurteilung und somit eine unzulässige Einflussnahme auf den Prozess. Das sei "rechtsstaatswidrig".

Deshalb beantragte sie heute, ein "Verfahrenshindernis" nach § 260 Abs. 3 der Strafprozessordnung festzustellen und das Verfahren einzustellen. Das Gericht hat angekündigt, den Antrag bis zum nächsten Verhandlungstag zu prüfen. Der Härte der Strafverfolgung begegnet die Verteidigung also mit eigener Härte.

Wählen gehen statt zu demonstrieren?

Man könnte Fabios politische Erklärung als unausgegorenes Pamphlet eines träumerischen Jugendlichen abtun. Aber wie stichhaltig ist es, einem empörten jungen Menschen entgegen zu halten, dass er doch in einer Demokratie lebe und seinen politischen Willen durch die Stimmabgabe bei Wahlen zum Ausdruck bringen könne, statt gegen die Mächtigen auf die Straße zu gehen?

Die Demokratien haben es nämlich weder geschafft, den Prozess der sich stetig ausweitenden Ungleichheit zwischen einer kleinen Elite von Superreichen und dem Menschheitsrest "aufzustoppen" und umzukehren, noch den weltweiten Ressourcenverbrauch so einzudämmen, dass auch nachkommende Generationen noch eine realistische Aussicht auf eine "Zukunft" auf Erden haben.

"Ich muss vielleicht einen Preis bezahlen. Aber ich habe keine Angst davor"

Ist man ein Straftäter, der ins Gefängnis gehört, wenn man die Überzeugung hat, dass nicht nur Putin, Erdogan und Xi Jinping, sondern auch die liberale Demokratie "bei der Lösung unserer Probleme" versagt? Das ist die Frage, um die es ab jetzt bei diesem Strafprozess geht. Für die Hamburger Justiz scheint das eine schwierige geistige Herausforderung zu sein.

Fabio V. aus Feltre in Norditalien ist entschlossen: "Ich muss vielleicht einen Preis bezahlen. Aber ich habe keine Angst davor," sagte der 18-Jährige vor dem Gericht.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 07.09.2017 | 21:45 Uhr