Kommentar

Stand: 11.10.15 20:24 Uhr

Flüchtlingskrise: Was soll Merkel denn "tun"?

von Andrej Reisin

Die Flüchtlingskrise geht weiter - und die Probleme werden vorerst nicht weniger. Nun mehren sich Stimmen, die von Bundeskanzlerin Angela Merkel verlangen, sie müsse ihren bisherigen Kurs ändern und "etwas tun".

Stefan Aust © imago Foto: Stefan Zeitz

"Politischer Offenbarungseid": Stefan Aust hat nicht viel übrig für Angela Merkels Flüchtlingspolitik.

So meint Stefan Aust in der "Welt": "Es ist ein politischer Offenbarungseid. Moralisch verbrämt, wird hier Nichtstun als Politik ausgegeben." Und im "Tagesspiegel" glaubt Großkolumnist Harald Martenstein, dass "das, was Angela Merkel gerade mit Deutschland anstellt, kein Mensch mit seiner Wohnung tun" würde: "Selbst der gutmütigste Mensch der Welt würde sich doch, bevor er Gäste aufnimmt, die Frage stellen, wie groß die Wohnung ist, wie viele Gäste er aufnehmen kann, wie viele Mitbewohner seine Brieftasche und seine Nerven verkraften können und wer die neuen Bewohner überhaupt sind."

Aber die Kanzlerin und die Deutschen wollten halt "schnell die Welt retten, drunter machen wir’s nicht, und wenn alles in Scherben fällt." Mit dieser doch ziemlich schrägen Rhetorik, die das nationalsozialistische Kultlied "Es zittern die morschen Knochen" ("Wir werden weiter marschieren, wenn alles in Scherben fällt, denn heute (ge)hört uns Deutschland und morgen die ganze Welt") zitiert, wird der Kanzlerin gewissermaßen ein ähnlich fanatisch-blindes Tun unterstellt. Abgesehen davon, dass man derlei Zitate im aktuellen Zusammenhang reichlich geschmacklos finden kann: Was wäre denn zu tun, wenn man eine "andere Flüchtlingspolitik" wollte?

Krudes "Notwehr"-Gerede

Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer © picture alliance/dpa Foto: Sven Hoppe

Gefährliches Gerede: Horst Seehofer.

Stefan Aust schreibt dazu, Merkel verstecke sich "hinter der von ihr immer wieder erwähnten 3.600 Kilometer langen deutschen Grenze, die angeblich sowieso nicht zu sichern sei. Sie skizziert die Schimäre eines Stacheldrahtzaunes, hinter dem Frauen und Kinder aus Kriegsgebieten von Wasserwerfern zurückgejagt werden." Schimäre? Was genau hält Aust für die Schimäre - die Rhetorik der Kanzlerin oder die Ausweglosigkeit der Grenzsicherung? In der Tat muss man sich doch fragen, was Horst Seehofers Lieblingswort "Grenzsicherung" denn heißen soll. Denn auf Nachfrage muss selbst sein Innenminister zugeben, über praktikable Maßnahmen nicht zu verfügen. Seehofers krude Antwort lautet "Notwehr" - was auf gefährliche Art ebenfalls an NS-Rhetorik erinnert.

Die Sicherung der deutschen Außengrenzen ist eine hohle Floskel, denn es bräuchte genau das, was Aust als "Schimäre" bezeichnet: Zäune, Mauern, Gräben, Niemandsland und den permanenten Einsatz einer bewaffneten Grenztruppe. Doch selbst, wenn man das alles hätte, könnte man an der Südgrenze der USA zu Mexiko beobachten, dass es dennoch jede Menge illegaler Einwanderer gibt - und das, obwohl die USA weit mehr legale Einwanderung zulassen als Deutschland. Von den bislang erfolglosen Versuchen des ungarischen Zaunbaus ganz zu schweigen.

Souveränität aufgeben sollen offenbar nur die anderen

Jahrelang hat Deutschland den EU-Partnern erzählt, es sei eben das Wesen einer Staatengemeinschaft, dass man einen Teil seiner Souveränität abgebe. Der entsprechende mediale Diskurs verlangte von den Griechen "harte Sparmaßnahmen", die von deutschen Interessen nicht unwesentlich mitbestimmte Politik der "Troika" aus Europäischer Zentralbank, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Kommission sowieso. Gleiches aber soll für Martensteins "Wohnung Deutschland" offenbar nicht gelten. Quod licet Iovi, non licet bovi.

Die Wahrheit aber ist genau diese: Griechenland ist nicht in der Lage (und wohl auch aus nachvollziehbaren Gründen nicht Willens), die EU-Außengrenze auf tausenden Inseln in der Ägäis zu sichern. Die Balkanländer können und wollen den Flüchtlingsstrom ebenso wenig aufhalten, schließlich haben sie genug mit der zum Teil desolaten Lage der eigenen Bevölkerung zu kämpfen, von der sich ein Teil auch am Liebsten in andere europäische Länder verabschieden würde, zum Teil legal (Bulgarien und Rumänien), zum Teil illegal (Serbien, Albanien, Kosovo).

Mit anderen Worten: Ja, die deutschen Außengrenzen sind nicht mehr sicher wie zu Zeiten des Kalten Krieges. Weder Wirtschaft noch Bevölkerung haben daran auch überhaupt ein ernsthaftes Interesse. Was die Kanzlerin ausspricht, ist deshalb nicht "visionär, gespenstisch oder missionarisch", wie Aust, Marteinstein und andere Kommentatoren meinen, sondern schlichter Realismus: Die Dinge liegen momentan eben nur bedingt in ihrer Macht.

Das "Nichtstun" ist die Schimäre der Kritiker

Landesparteitag der CDU in Wismar: Angela Merkel vor einem großformatigen Foto der Maueröffnung in Berlin. © dpa-Bildfunk Foto: Jens Büttner

Angela Merkel lässt sich bislang nicht von ihrem Kurs abbringen.

Wer Angela Merkel am vergangenen Mittwoch erst im EU-Parlament in Straßburg und dann am selben Abend hellwach bei Anne Will für ihre Politik hat kämpfen sehen, wer die Quasi-Entmachtung von Innenminister Thomas de Maizière in der Flüchtlingsfrage (trotz des Dementis der Kanzlerin) aufmerksam verfolgt hat, dem muss der Vorwurf des "Nichtstuns" geradezu absurd vorkommen. Aber die Grenzen lassen sich eben nicht einfach dichtmachen. Nur wenn von der Türkei bis Portugal alle Länder eine gemeinsame Grenz- und Flüchtlingspolitik verfolgten, könnte der Zustrom wirksam begrenzt werden.

Und nun? "Schaffen wir das?" Ich würde von den zahlreichen Pessimisten gerne wissen, in welcher Art und Weise die Flüchtlingskrise sie persönlich bisher negativ betroffen hat. Die einzigen, deren Leben sich in diesem Sommer massiv verändert hat, sind diejenigen, die in Behörden und Hilfsorganisationen haupt- oder ehrenamtlich dabei sind, Flüchtlingen zu helfen und die Krise zu bewältigen. Den Dank dafür bekommen sie alle viel zu selten, stattdessen müssen sie sich allzu oft noch vom rechtsradikalem Pöbel beschimpfen lassen.

Sicher, hier und da gibt es Beispiele von überfüllten Zügen, belegten Turnhallen oder kommunalen Wohnungen, die vorübergehend zweckentfremdet werden. Aber für die Masse der Bevölkerung hatte die Flüchtlingskrise trotz aller behördlichen Unzulänglichkeiten bisher exakt null Konsequenzen. Niemand hat auch nur einen Hauch seines bisherigen Lebensstils ändern oder aufgeben müssen. Und dennoch suggerieren die Austs und Martensteins, "so" könne es ja nicht weitergehen.

Vor 25 Jahren: Feindbild Ostdeutsche

Ironie der Geschichte: Vor 25 Jahren gab es schon einmal ganz ähnliche Töne. Damals jedoch ging es um ostdeutsche Zuwanderer, wie dem ehemals von Aust geführten "Spiegel" vom 19. Februar 1990 zu entnehmen ist:

"In Westdeutschland kocht Haß auf die DDR-Übersiedler hoch. Die Staatenwechsler werden zunehmend als Konkurrenten auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt betrachtet. Vor allem in den Fluren der westdeutschen Sozialämter entlädt sich der Zorn auf die Zuzügler. Ein Beamter: 'Wir sind froh, wenn das Mobiliar heil bleibt.' ... In Wahrheit haust Laubsch unter erbärmlichen Umständen in einer dringend renovierungsbedürftigen Turnhalle im Zentrum von Bochum. Jeden Tag kommt es in dem Notquartier zu Streit und Schlägereien, und nachts kann der Mann kaum schlafen, weil Betrunkene krakeelend durch die Gänge torkeln. Laubsch: 'Es ist die Hölle.'"

Zustände, an die sich manche Kommentatoren heute offenbar nicht mehr erinnern können,und die das Land längst hinter sich gelassen hat. Deutschland hat alle Ressourcen, um die Flüchtlingskrise erfolgreich zu meistern, es erfordert allerdings Zuversicht, Mut und Pragmatismus. Angela Merkel scheint dies begriffen zu haben - andere dagegen verharren in einer Welt der "gesicherten Grenzen", die real nicht mehr existiert. Mit Ihnen ist - so muss man befürchten - in Zukunft kein Staat zu machen.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 08.10.2015 | 21:45 Uhr