Sind Asylbewerber krimineller als Deutsche?

von Andrej Reisin

Dass viele Gerüchte über kriminelle Asylbewerber ("Vergewaltiger") falsch sind, beweist ja noch nicht, dass es keine gibt. Im Gegenteil: natürlich gibt es kriminelle Asylbewerber, es sind ja auch nur Menschen. Die entscheidende Frage ist also: Sind Asylbewerber krimineller als Deutsche?

Zu dieser Frage hätte man gern eine klare Statistik - die gibt es aber leider nicht, auch wenn einige unserer Zuschauer das in ihren Zuschriften immer wieder behaupten.

Ein Polizeiwagen fährt eine Straße entlang. © picture alliance/dpa/Marius Becker Foto: Marius Becker

Sind Asylberwerber krimineller als Deutsche?

Ihre Argumentation: die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) des Bundeskriminalamts (BKA) weise eindeutige Zahlen aus. Daraus gehe hervor, dass Ausländer und Asylbewerber in nahezu allen Kategorien von Straftaten deutlich überrepräsentiert - und mithin also krimineller seien. Schlussfolgerung vieler User-Kommentare und Emails: entweder sei die Redaktion zu faul oder zu doof, sich mit den Zahlen zu befassen - oder aber fälsche ganz bewusst und betreibe Propaganda.

Warum ist es nicht so einfach mit den Zahlen? Besonders viel Emotionen erzeugt das Thema Vergewaltigung. Natürlich muss es bei 100 Asylbewerbern mehr Vergewaltiger als bei 100 Deutschen geben. Warum? Weil man diese Gruppen nicht vergleichen kann. Nimmt man 100 Deutsche, sind darunter viele  Frauen, Baby, Greise etc., die man als potentielle Täter ausschließen kann. Gruppen, die unter den Asylbewerbern kaum vorkommen. Nimmt man 100 Flüchtlinge, sind darunter ungleich mehr Männer. Der plumpe Vergleich von 100 zu 100 verzerrt also die Statistik.

Gibt es belastbare Hinweise?

Wir haben Experten danach befragt, ob es ihrer Auffassung nach belastbare Hinweise darauf gibt, dass Asylbewerber (und darauf haben wir uns beschränkt) grundsätzlich krimineller seien als Deutsche. Einhellige Antwort: Nein, dafür gebe es keinen Anhaltspunkt. Wie aber kommt es dann zu der in der Tat vorhandenen Über-Repräsentation in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS)?

Das BKA weist in der PKS selbst darauf hin, dass die Daten "nicht mit der tatsächlichen Kriminalitätsentwicklung gleichgesetzt werden [dürfen]. Sie lassen auch keine vergleichende Bewertung der Kriminalitätsbelastung von Deutschen und Nichtdeutschen zu. Einem wertenden Vergleich zwischen der deutschen Wohnbevölkerung und den sich in Deutschland aufhaltenden Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit stehen (auch) das doppelte Dunkelfeld in der Bevölkerungs- und in der Kriminalstatistik sowie der hohe Anteil ausländerspezifischer Delikte und die Unterschiede in der Alters-, Geschlechts- und Sozialstruktur entgegen."

Statistische Verzerrungseffekte

Die PKS unterliegt also erheblichen statistischen Verzerrungseffekten:

1. Spezifische Ausländerkriminalität
Es gibt ausländerspezifische Delikte wie Passvergehen und Einreisevergehen, die deutsche Staatsangehörige in aller Regel gar nicht begehen können. Die PKS weist diese mittlerweile aber immerhin gesondert aus.

2. Touristenkriminalität
Ein erheblicher Teil der ausländischen Tatverdächtigen gehören gar nicht der Wohnbevölkerung an, sondern sind Touristen, Fernfahrer, Angehörige fremder Streitkräfte usw. Damit ist die Zahlenbasis der Ausländer in der PKS höher als die der einheimischen Bevölkerung.

3. Eingangs- vs. Strafverfolgungsstatistik
Die PKS ist eine Ausgangsstatistik, in der die Polizei angezeigte Straftaten zählt und ermittelte Tatverdächtige ausweist. Mit der Zahl der verurteilten Straftäter hat sie nichts zu tun. Viele Studien legen aber sehr nahe, dass Ausländer und Asylbewerber erstens häufiger verdächtigt (und unter anderem darum ging es auch bei unseren Gerüchten), zweitens auch häufiger angezeigt und drittens zum Teil auch strenger verurteilt werden als Deutsche.

Angesichts der Tatsache, dass nur gut 30 Prozent der Tatverdächtigen überhaupt verurteilt werden, sagt die PKS über die tatsächliche Kriminalität also nur bedingt etwas aus. Die Zahlen der PKS sind mit den Strafverfolgungs- und Verurteiltenstatistiken des Statistischen Bundesamts aufgrund unterschiedlicher Kategorisierungen aber kaum vergleichbar. Laut periodischem Sicherheitsbericht der Bundesregierung liefert eine Analyse der statistischen Angaben in PKS und Strafverfolgungsstatistik zur Relation von Tatverdacht und Strafverfolgung "keine weiteren Erkenntnisse".

Ein besonders spektakuläres Beispiel liefert dafür die Mordserie des "Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU)". Jahrelang verdächtigte und ermittelte die Polizei gegen unbekannte ausländische Tatverdächtige im Bereich der (organisierten) Ausländerkriminalität, während sie einen fremdenfeindlichen Hintergrund praktisch gar nicht in Betracht zog.

Ähnliche Phänomene kennen wir auch aus anderen Ländern, zum Beispiel den USA: Dort sind etwa zwölf bis 13 Prozent der Bevölkerung Schwarze, stellen aber fast 60 Prozent der Gefängnisinsassen. Die Ursache dafür ist aber kein “genetischer”, “religiöser” oder “kultureller” Hang zur Kriminalität, sondern eine Mischung aus unterschiedlichen soziologischen Faktoren, inklusive hoher Arbeitslosigkeit, schlechten Wohnverhältnissen und einem teilweise institutionalisierten Rassismus, der Schwarze in den Mühlen der Justiz systematisch schlechter behandelt.

4. Strukturelle Unterschiede
Solche strukturellen Verzerrungen enthält auch die PKS: Die ausländische Wohnbevölkerung ist jünger und männlicher als der deutsche Durchschnitt, umfasst erheblich mehr Großstadtbewohner, die zudem weitaus häufiger aus prekären Verhältnissen stammen. Alle diese Faktoren beeinflussen die Kriminalität erheblich: Junge Männer sind kriminologisch betrachtet die größte "Risikogruppe" schlechthin.

5. Die besondere Situation von Asylsuchenden
Für Asylbewerber und Flüchtlinge kommen noch einmal besondere Faktoren hinzu, die mit ihrer spezifischen Lebenssituation zu tun haben: Gegen mehr als ein Drittel der tatverdächtigen Asylbewerber wurde wegen Verstößen gegen das Aufenthalts-, das Asylverfahrens- und EU-Freizügigkeitsgesetz ermittelt. Weiterhin spielen Bagatelldelikte wie einfacher Diebstahl (ca. 30 Prozent der tatverdächtigen Asylbewerber) eine große Rolle. Hier ist anzunehmen, dass die zum Teil monate- und jahrelang andauernde perspektivlose Unterbringung in Asylbewerberheimen ohne die Möglichkeit, eine Arbeit anzunehmen oder den Ort zu verlassen, erheblichen Einfluss auf diese Bagatellkriminalität hat.

Dazu heißt es im Zweiten Periodischen Sicherheitsbericht der Bundesregierung: "Inwieweit Zuwanderer als Täter und Opfer erkennbar werden, hängt weitgehend vom unterschiedlich sicheren Aufenthaltsstatus ab, der Lebensperspektiven, Integration und Kriminalität beeinflusst." Die von Asylsuchenden begangenen Bagatelldelikte im Ausländerstrafrecht und die geringfügigen Vermögensdelikte werden dort als "Reflex ihrer eingeschränkten Lebensbedingungen" eingestuft.

"Kriminalitätsbelastung nicht höher als bei deutschen Tatverdächtigen"

Im "Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland" heißt es dazu abschließend: Bei ausländischen Tatverdächtigen "mit sicherem Aufenthaltsstatus ist die Kriminalitätsbelastung nicht höher als bei deutschen Tatverdächtigen."

Sind Asylbewerber nun also krimineller als Deutsche oder nicht? Da die Statistik keine eindeutige Antwort gibt, verlassen wir uns in entsprechenden Beiträgen lieber auf die Aussagen von Praktikern. In dem Beitrag geht es um Vergewaltigung. André Schulz vom Bund Deutscher Kriminalbeamter sagt: "Wir haben jetzt keine Erhöhung festgestellt in diesem Bereich. Von daher muss man einfach sagen, mit diesen Ängsten zu spielen, ist dann perfide. Ausländer, gerade Asylbewerber, sind in diesem Bereich Sexualstraftaten nicht auffälliger als deutsche Täter."

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 29.10.2015 | 21:45 Uhr